Die Geschichten von Abraham, seiner Frau Sara und seinem Sohn Isaak haben einen festen Platz im kollektiven Gedächtnis von Juden und Christen. Aber auch im Islam spielt Abraham eine bedeutende Rolle für die Identität der Muslime. Er wird als Prophet, Freund Gottes und Urahn einer Stammfamilie verehrt, zu der neben Sara und Isaak auch die Sklavin Hagar und ihr Sohn Ismael gehören. Viele Muslime besuchen sein Grab in der Abraham-Moschee in Hebron. Aber welche Rolle kann dieser gemeinsame Stammvater im interreligiösen Dialog spielen?
Unterschiedliche Ansprüche und Glaubensstraditionen
Abraham wird als vorbildlicher Diener Gottes verehrt, dessen Glaube bis an seine Grenzen getestet wurde. Er ist der Stammvater, dessen Söhne Isaak und Ismael von zwei verschiedenen Müttern stammen. Mit Hagar zeugte er Ismael, während Isaak von seiner Ehefrau Sara stammt, die lange Zeit kinderlos blieb. Es ist eine komplizierte Familiengeschichte, die nicht ohne Konflikte ist. Aber letztendlich betrachte ich sie mit einem interreligiösen Blick und sehe sie als eine Familie. Daher sollten wir heute von der Stammfamilie sprechen, zu der Abraham, Hagar, Sara, Isaak und Ismael gehören.
Zwei Brüder, zwei Mütter – dadurch haben sich in den großen Weltreligionen verschiedene Ansprüche und Glaubensstraditionen entwickelt. Theologische und gesellschaftliche Konflikte sind nicht ungewöhnlich. Aber trotzdem ist es wichtig, dass wir uns als Religionsfamilie im Sinne der Stammfamilie von Abraham verstehen und gemeinsam nach vorne schauen.
Abraham – Eine Integrationsfigur in einer multireligiösen Gesellschaft
Auch in den besten Familien gibt es Streit und Misstrauen. Dennoch könnte Abraham zum gegenseitigen Verständnis beitragen und als Integrationsfigur in einer multireligiösen Gesellschaft dienen. Karl-Josef Kuschel, ein Pionier des interreligiösen Dialogs, weist schon seit vielen Jahren auf die Rolle Abrahams als Brückenbauer hin. Es geht nicht darum, den eigenen Tunnelblick zu pflegen, sondern das Verbindende zu stärken.
Abraham kann als gemeinsames Glaubensvorbild betrachtet werden. Die Geschichten von ihm und seiner verzweigten Familie können als dramaturgischer Rahmen für eine neue Erzählkultur dienen – eine “abrahamische Ökumene”. Wir leben von solchen Narrativen der Hoffnung, um dem kalten Zynismus etwas entgegenzusetzen.
Weltfrieden gibt es nur mit den Religionen
Der Tübinger Theologe Karl-Josef Kuschel, Vorsitzender des “Abrahamischen Forums” in Deutschland, ist überzeugt: “Weltfrieden gibt es nicht ohne die Religionen und Weltfrieden gibt es nicht gegen die Religionen, sondern den gibt es nur mit den Religionen, wenn sie eine konstruktive Rolle spielen.”
In einer multireligiösen Gesellschaft ist es wichtig, miteinander zu leben und das Anderssein der Anderen anzuerkennen. Im Geiste Abrahams können wir die Gemeinsamkeiten betonen. Denn Abraham ist die einzige Person, die das Judentum, das Christentum und den Islam so stark vereint wie kein anderer Mensch und kein anderer Prophet.
Dieser Prozess erfordert jedoch Zeit, Offenheit und Geduld. Es bedeutet, sich gegenseitig kennenzulernen und gemeinsam für die Gesellschaft etwas zu tun.