Es war vor einigen Monaten, als ein Hashtag auf Twitter viral wurde. Ein Hashtag, der verdeutlichte, was die Gesellschaft bisher gerne ignoriert hat. Unter #IchbinArmutsbetroffen schilderten arme Menschen ihre Schicksale, sprachen über finanzielle Nöte und die sorgenvolle Frage: Wie soll es weitergehen? Wer soll das alles bezahlen? Mittlerweile zeugen über 100.000 Tweets von der Angst vor der nächsten Rechnung und dem Leben am Existenzminimum.
Die Twitter-Bewegung gibt jedoch nur einen kleinen Einblick in die Realität. Während sich mittlerweile auch Menschen mit mittlerem Einkommen Sorgen über steigende Preise und Energiekrisen machen, klagen die Tafeln über einen starken Andrang. “Seit Jahresbeginn haben wir einen Anstieg von 50 Prozent bei den Kundinnen und Kunden verzeichnet”, sagte der Vorsitzende des Dachverbands Tafel Deutschland, Jochen Brühl, der Düsseldorfer “Rheinischen Post” (Samstag). Insgesamt nutzen etwa zwei Millionen Menschen die Tafeln. Gleichzeitig sind die Lebensmittelspenden zurückgegangen. “Rund ein Drittel der Tafeln musste Aufnahmestopps verhängen”, sagte Brühl.
Arm ist, wer weniger als 1251 Euro netto verdient
Offiziell gilt in Deutschland als armutsgefährdet, wer weniger als 60 Prozent des sogenannten Nettoäquivalenzeinkommens zur Verfügung hat. Im vergangenen Jahr betrug dies nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 15.009 Euro netto im Jahr (1251 Euro im Monat) für eine alleinlebende Person und 31.520 Euro netto im Jahr (2627 Euro im Monat) für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren.
Nach den aktuellsten verfügbaren Daten sind davon 15,8 Prozent der deutschen Bevölkerung betroffen, das entspricht rund 13 Millionen Menschen. Ein Rekordwert, wie der Paritätische Wohlfahrtsverband kürzlich errechnet hat. Vor Beginn der Corona-Pandemie lebten demnach noch 600.000 Menschen weniger unter der entsprechenden Grenze.
Dieses Maß ist jedoch umstritten: Es werden beispielsweise keine Vermögenswerte berücksichtigt und Ausgaben nicht berücksichtigt. Kritiker argumentieren außerdem, dass dieser Wert vor allem Ungleichheit misst, aber keine Armut. In Ländern mit höheren Einkommen wie Norwegen, der Schweiz und Luxemburg liegt die Armutsgefährdungsschwelle entsprechend höher. In Ländern wie Rumänien, Griechenland oder Albanien liegt sie dagegen deutlich niedriger.
Alleinerziehende überdurchschnittlich oft betroffen
Die Armutsbetroffenheit hängt nicht nur vom Wohnort ab. Laut den neuesten Daten des Statistischen Bundesamtes verdienen 20 Prozent der Deutschen weniger als 16.300 Euro netto im Jahr. 40 Prozent der Bevölkerung haben ein Nettoeinkommen von weniger als 22.000 Euro pro Jahr, aber genauso viele Menschen verdienen auch mehr als 28.400 Euro.
Besonders häufig sind Menschen in einer bestimmten Familienkonstellation von finanziellen Schwierigkeiten betroffen. Während die durchschnittliche Armutsgefährdungsquote für die gesamte Bevölkerung bei 15,8 Prozent liegt, sind über 41 Prozent der alleinerziehenden Menschen von Armut bedroht. Nur Arbeitslose sind noch häufiger betroffen (48,8 Prozent).
Auch bei Familien mit drei oder mehr Kindern geraten gut ein Drittel in finanzielle Engpässe. Nach den neuesten Angaben des Statistischen Bundesamtes sind auch Studierende besonders belastet. 37,9 Prozent von ihnen waren 2021 armutsgefährdet. Studierende, die allein oder ausschließlich mit anderen Studierenden zusammenleben, haben ein noch höheres Risiko. In diesem Fall waren rund drei Viertel (76,1 Prozent) der Studierenden von Armut bedroht. Fast zwei von fünf Studierenden konnten außerdem bereits im letzten Jahr ungeplante Ausgaben nicht bewältigen, noch vor der Energie- und Preissteigerungskrise.
Bremen – Armenhaus der Nation?
Bei einem Blick auf die Bundesländer zeigt sich, dass im traditionell wirtschaftlich starken Süden Deutschlands die wenigsten Menschen von Armut bedroht sind. In Baden-Württemberg lag die Armutsgefährdungsquote im vergangenen Jahr bei 13,9 Prozent, in Bayern sogar nur bei 12,6 Prozent.
Im Osten der Republik sieht es dagegen anders aus. Während Brandenburg von der Nähe zu Berlin zu profitieren scheint (14,5 Prozent armutsgefährdet), gehören die Hauptstadt selbst (19,6 Prozent), Sachsen-Anhalt (19,5 Prozent) und Thüringen (18,9 Prozent) zu den Bundesländern mit den meisten von Armut bedrohten Menschen. Nur Bremen übertrifft diese Werte. Dort befindet sich mehr als ein Viertel (28 Prozent) der Bevölkerung in einer finanziell schwierigen Lage.
Allerdings wird kritisiert, dass dieser Vergleich nicht die unterschiedlichen Einkommensstrukturen der Bundesländer berücksichtigt. Daher lohnt es sich, auch einen Blick auf den Vergleich nach dem Durchschnittseinkommen jeden Bundeslandes zu werfen. Wenn man diesen als Grundlage nimmt, relativiert sich die Situation in Bremen. Die Quote beträgt dann nur noch 20,9 Prozent, während sie in Bayern auf 15,5 Prozent steigt – höher als in allen neuen Bundesländern, mit Ausnahme von Berlin.
Wie verteilt sich das Vermögen in Deutschland?
Die Reichen haben es dagegen nicht so gerne im Osten. Nur ein Bruchteil der Menschen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen verdient mehr als 200 Prozent des Nettoäquivalenzeinkommens. Eine Ausnahme bildet auch hier Brandenburg, das wiederum von der Nähe zur Bundeshauptstadt profitieren dürfte.
In welchen Landkreisen wird wie viel verdient?
Die genaue Höhe des verfügbaren Einkommens in den verschiedenen Landkreisen wird durch Daten der Bundesländer aufgezeigt. Der Arbeitskreis “Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder” – kurz VGR – verwendet für diese Berechnung eine andere Grundlage als für die Armutsberechnung. Statt des Nettoäquivalenzeinkommens wird das verfügbare Einkommen berechnet. Dies umfasst das Primäreinkommen (Gehalt plus Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit, Einkommen aus Vermögenswerten und Zulagen wie Weihnachtsgeld usw.) sowie laufende Transferleistungen wie Elterngeld- und Kindergeldzahlungen, unter Berücksichtigung der Steuern und Sozialabgaben.
Auch nach dieser Berechnung zeigen vor allem Landkreise im Süden Deutschlands eine starke finanzielle Situation. In der Stadt Heilbronn betrug das verfügbare Einkommen im Jahr 2019 pro Einwohner über 42.000 Euro, während es in Gelsenkirchen nur rund 17.000 Euro betrug. Im Norden des Landes sind vor allem die Regionen um Hamburg einkommensstark, ebenso wie der Kreis Nordfriesland, in dem sich auch die Insel Sylt befindet.
Übrigens haben Haushalte ohne Kinder überdurchschnittlich oft ein hohes Einkommen. Der Anteil der sogenannten DINKs (Double Income, No Kids) an der Gesamtbevölkerung beträgt nur 4,6 Prozent. Ihr Anteil an den Haushalten in den obersten 5 Prozent der Einkommensgruppen beträgt jedoch 13 Prozent. Dieser Trend zeigt sich auch bei Paaren, bei denen die Kinder außerhalb des eigenen Haushalts leben, zum Beispiel weil sie bereits ausgezogen sind.
Allerdings zeigt sich hier auch die Benachteiligung von Alleinerziehenden. Nur 1 Prozent der Alleinerziehenden befindet sich in der obersten 10 Prozent Einkommensgruppe. In der obersten Einkommensgruppe finden sich sogar nur 0,5 Prozent Alleinerziehende.
Über ein interaktives Tool des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) können Sie herausfinden, wie Sie im Vergleich zur Gesamtbevölkerung dastehen. Hier können Sie Ihr Haushaltsnettoeinkommen und Ihren Haushaltstyp angeben und die Gruppe auswählen, mit der Sie sich vergleichen möchten.
Übrigens basieren alle Grafiken auf Daten, die das Armuts- und Einkommensbild vor Beginn des Krieges in der Ukraine und vor dem sprunghaften Anstieg der Energiepreise und Inflation zeigen. Im letzten Jahr konnten 3,7 Prozent der Menschen ihre Energierechnungen nicht fristgerecht bezahlen.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes konnten fast ein Drittel der Deutschen 2021 größere ungeplante Ausgaben bewältigen. Wie sich die aktuellen Krisen auf diese Zahlen auswirken, wird jedoch erst im kommenden Jahr feststehen.