Balance, oder Gleichgewicht, ist eine Fähigkeit des menschlichen Körpers, die derzeit in verschiedenen Bereichen immer mehr Aufmerksamkeit erhält. Es spielt eine Rolle bei der Verbesserung der sportartspezifischen Fähigkeiten von Spitzensportlern, der Optimierung von Sicherheit und Leistung bei Alltagsathleten und der Sturzprophylaxe in der Gerontologie. In den 90er Jahren wurde das Gleichgewichtstraining bereits zu einem größeren Thema in der Fitnesswelt, als instabile Untergründe wie Bosu-Bälle, Pads und Kissen Einzug in die Fitnessstudios hielten.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat herausgefunden, dass Stürze weltweit die zweithäufigste Ursache für Unfalltode sind. Dennoch wird über das Gleichgewichtstraining nicht so umfassend gesprochen wie über das Kraft-, Ausdauer- oder Mobilitätstraining. Viele Menschen erkennen die Bedeutung des Gleichgewichtssystems erst, wenn es eingeschränkt oder beschädigt ist, beispielsweise durch Seekrankheit oder Morbus Menière. Dies liegt zum einen daran, dass der Zusammenhang zwischen sportlicher Leistungsfähigkeit und einem gut entwickelten Gleichgewichtssinn in weit verbreiteten Sportarten wie Laufen, Schwimmen, Hand- oder Fußball allmählich anerkannt wird und daher in der Trainingsplanung vernachlässigt wird. Zum anderen haben einige Sportler, Trainer und Therapeuten Schwierigkeiten, Balance als greifbare Fähigkeit zu verstehen und wissen nicht genau, wie sie effektiv trainiert werden kann. Daher ist es hilfreich, den Aufbau und die Funktionsweise unseres Gleichgewichtssystems genauer zu betrachten.
Die drei Systeme des Gleichgewichts
Unser Gleichgewichtssystem besteht aus drei Teilsystemen: dem visuellen System (Augen), dem vestibulären System (inneres Ohr) und dem propriozeptiven System (Tiefensensibilität). Diese Systeme arbeiten zusammen, um Informationen aufzunehmen, zu integrieren und zu verarbeiten. Dadurch wird eine effiziente und sichere Körperhaltung und -bewegung ermöglicht, die die Gravitation berücksichtigt. Die optimale Funktion des Gleichgewichtssystems ermöglicht es uns, uns in jede Richtung zu bewegen, sei es ein schneller Richtungswechsel im Sport oder eine sturzvermeidende Gewichtsverlagerung im Alltag.
Ein Selbstversuch zur Verdeutlichung der drei Systeme
Um die Funktionsweise der drei Teilsysteme praktisch zu verdeutlichen, können Sie einen einfachen Selbstversuch durchführen. Stellen Sie sich auf eine freie, gerade Fläche und machen Sie folgende Tests:
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Test #1: Stellen Sie sich jeweils für 20 Sekunden auf ein Bein und schauen Sie geradeaus. Hier testen wir hauptsächlich das propriozeptive System – was Ihre Fußsohle, Gelenke und Muskeln empfangen und wie Ihr zentrales Nervensystem darauf reagiert. Normalerweise wird Ihr Sprunggelenk einige kleine lokale Bewegungen zeigen, die Sie jedoch relativ stabil stehen lassen sollten.
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Test #2: Wiederholen Sie Test #1 und drehen Sie Ihren Kopf für 10 Sekunden nach rechts und dann für 10 Sekunden nach links. Dadurch wird das vestibuläre System aktiviert und einige Schwachstellen in Ihrer Balancefähigkeit können sichtbar werden.
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Test #3: Wiederholen Sie Test #1 erneut. Wählen Sie dabei mehrere Punkte aus, die Sie langsam mit den Augen verfolgen, während Ihr Kopf in neutraler Position bleibt. Durch diese Testvariante wird das visuelle System eingebunden.
Die Integration dieser vielschichtigen Gleichgewichtsfertigkeiten in alltägliche und sportartspezifische Bewegungen verleiht uns nicht nur ein sicheres Gefühl, sondern hat auch eine Vielzahl an unbewussten Prozessen zur Folge. Diese können entweder Sicherheit signalisieren, wenn die Informationsintegrierung störungsfrei erfolgt, oder Gefahr signalisieren, wenn es zu Informationskonflikten kommt. Letzteres kann sogar zu einem globalen Leistungsabfall führen, da das zentrale Nervensystem in erster Linie darauf abzielt, unseren Körper vor Verletzungen zu schützen und Muskelhemmungen als Schutzmechanismus einsetzen kann.
Nachdem wir die drei Teilsysteme vorgestellt haben, stellt sich die Frage, wie Defizite entstehen und was wir dagegen tun können. Verletzungen, Krankheiten und das Alter können die Funktion unseres Gleichgewichtssystems einschränken oder stören. In den meisten Fällen sind es jedoch Dinge im alltäglichen Leben, wie die intensive Nutzung von Bildschirmen, sitzende Tätigkeiten und das Fehlen abwechslungsreicher Bewegung, die unser Gleichgewichtssystem beeinflussen. Daher gilt auch für dieses System die Maßgabe aller anderen physiologischen Systeme: Use it or lose it!
Ganzheitliches Gleichgewichtstraining
Die Nutzung von instabilen Untergründen ist keine gute Idee, um das Gleichgewicht zu trainieren. Das Bewegungssystem ist so komplex und spezifisch, dass wir nur in der Bewegung besser werden, die wir auch trainieren. Training auf instabilen Untergründen verbessert nur das propriozeptive System und es gibt ausreichend Studien, die die Vorteile des Trainings auf stabilen Untergründen belegen. Zudem werden das visuelle und vestibuläre System vernachlässigt und die Integration und Verarbeitung der Signale im zentralen Nervensystem nicht berücksichtigt.
Ein ganzheitliches Gleichgewichtstraining sollte verschiedene Körper-, Augen- und Kopfbewegungen beinhalten. Dabei können die Übungen an den sportartspezifischen oder alltagsspezifischen Anforderungen angepasst werden. Yogis werden einige Überschneidungen mit ihren klassischen Übungen erkennen, wie die einbeinige Tree Pose, die Anleitung des Blicks und das Schließen der Augen. Diese Erkenntnisse können nicht nur im Aufwärmprogramm, sondern auch im Hauptteil des Kraft- oder Ausdauertrainings integriert werden. Ein Partner kann dabei helfen, auf die Kopf- und Augenposition zu achten und Rückschlüsse auf die Signalqualität und -verarbeitung zu ziehen.
Fazit:
- Unser Gleichgewichtssystem besteht aus drei Teilsystemen: visuellem, vestibulärem und propriozeptivem System.
- Das Training auf instabilen Untergründen verbessert nur das propriozeptive System und führt nicht zu einem direkten Transfer in den Sport oder Alltag.
- Balance bedeutet Sicherheit für das zentrale Nervensystem, was zu einer globalen Leistungssteigerung führt.
- Ein ganzheitliches Gleichgewichtstraining sollte verschiedene Körper-, Augen- und Kopfbewegungen beinhalten.
Autor: Patrick Preilowski
Patrick Preilowski ist diplomierter Sportwissenschaftler und spezialisiert sich auf die Trainingssteuerung und Betreuung von Berufssportlern. Er ist Mitbegründer des Trainings- und Coaching-Konzepts “Out Of The Box”.
Quellen:
(1) Hrysomallis C. Balance ability and athletic performance. 2011 Mar 1;41(3):221-32.
(2) San Diego (CA): Singular Publishing Group, 1997: 261-79 2. Hrysomallis C. Relationship between balance ability, training and sports injury risk. Sports Med 2007; 37 (6): 547-56.
(3) http://www.who.int/mediacentre/factsheets/fs344/en/ (Zugriff: 29.02.16)
(4) Shumway-Cook A, Woollacott MH. Motor Control: Theory and Practical Applications. Philadelphia: Lippincott, Williams & Wilkins; 2001.
(5) Todd R. Hargrove. A Guide to Better Movement: The Science and Practice of Moving With More Skill And Less Pain – 21. Mai 2014, S. 8
(6) http://www.bettermovement.org/blog/2009/0110111 (Zugriff 29.02.16)
(7) Cressey, E.M., et al. (2007). The effects of ten weeks of lower-body unstable surface training on markers of athletic performance. J Str Cond Res. 21(2): 561-567.
(8) Behm DG, Anderson K, Curnew RS (2002). Muscle force and activation under stable and unstable conditions. J Str Cond Res. 16: 416-422.
(9) In Anlehnung an die Informationen, die Dr. Eric Cobb (Chiropraktiker, Neuroexperte und Gründer von Z-Health Performance) in seinem Blog bereitstellt: http://zhealtheducation.com/category/blog/