Beileidstourismus: Trauer in Worten

Beileidstourismus: Trauer in Worten

Wenn ein Mord passiert oder ein großer Prozess stattfindet, ist Timo Tasche fast immer da. Mit seinen Schildern, auf denen meistens “Warum?” steht, möchte er seine Gedanken zum Ausdruck bringen. Timo Tasche, ein Mann in einem schwarzen Mantel mit sorgfältig gepudertem Gesicht, zieht von Tatort zu Tatort, von Gerichtsverhandlung zu Gerichtsverhandlung, von Demonstration zu Demonstration und von Beerdigung zu Beerdigung. Er hält Schilder mit Fragen und Anklagen hoch, legt Blumen und Plüschtiere nieder.

Tasche ist 27 Jahre alt und erhält Hartz IV. Er bezeichnet sich selbst als “einfachen Demonstranten”. Sein Leben ist von Rückschlägen geprägt. In seiner Wohnung in Marl hat er wenig Besitz, aber eine Discoanlage, um die schlimmen Gedanken zu vertreiben und keine Angst mehr vor dem eigenen Tod zu haben. Er versucht zu vergessen, dass in seinem Leben alles schief gelaufen ist und dass er Schwierigkeiten hat, mit anderen Menschen klarzukommen. Es gibt niemanden, der ihn braucht, manche Menschen hassen ihn sogar.

Tasche weiß selbst nicht, warum er zu den Tatorten und Gerichtsverhandlungen geht. Vielleicht fühlt er sich manchmal als Rächer oder Held. Xavier Naidoo, Silbermond und Juli hört er auf dem Weg zu den Tatorten in seinem silbernen Honda. Diese Lieder geben ihm Mut. Meistens fährt er allein, manchmal begleitet ihn ein Nachbar.

Es gibt Momente, in denen Tasche vergessen kann, was in seinem Leben passiert ist. Wenn er sich morgens vor seinen Computer setzt und die neuesten Nachrichten durchforstet, verschwindet die Angst vor dem, was passieren könnte. Ein getötetes Kind, eine eingestürzte Halle, ein Busunglück – all das treibt ihn an. Tasche war in Hamburg, als Jessica verhungert ist, beim Mitja-Prozess in Leipzig, bei Stephanie in Dresden, in Bad Reichenhall, beim Mannesmann- und beim Hartz-Prozess.

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Seit sechs Jahren macht Tasche das nun schon. Es begann, als er im Fernsehen von dem Fall Ulrike hörte. Seitdem fährt er zu den Orten des Leids und legt seine Gedanken nieder. Der nächtliche Fundort von Ulrike, von Grableuchten in ein diffuses Licht getaucht, ist für Tasche der finsterste Ort auf der ganzen Welt. Er hatte damals keine Blumen, also schrieb er auf eine Sperrholzplatte: “Ulrike, Du bleibst in unserem Herzen”.

Die Frage nach dem “Warum” bleibt offen. Tasche selbst kennt die Antwort nicht. Vielleicht fährt er von Ort zu Ort, um seiner eigenen Einsamkeit zu entkommen. Vielleicht möchte er aber auch einfach den Opfern seine Solidarität zeigen und ihre Geschichten in Erinnerung behalten.

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