Brutalstmögliche Aufklärung: Das Geheimnis der Macht

Brutalstmögliche Aufklärung: Das Geheimnis der Macht

Können wir ohne Geheimnisse leben? Vom kleinen Notlüge am Telefon bis zu verbotenen Liebschaften – unser Leben ist von Geheimnissen durchzogen. Doch in einer demokratischen Gesellschaft, die auf Wahrhaftigkeit setzt, gibt es nur wenig Raum für Verborgenes. Dies kann besonders für Personen des öffentlichen Lebens problematisch sein, die auf größtmögliche Resonanz angewiesen sind und ihr Privatleben nur schwer schützen können.

In den Vereinigten Staaten sorgte vor einigen Jahren eine Schreibtisch-Affäre für Aufsehen und unterhielt die ganze Nation. Helmut Kohl hingegen gelang es geschickt, seine Verwicklung in die Parteikonten-Affäre der CDU geheim zu halten. Doch wurde seine Geheimhaltungspraxis als politischer Anachronismus gesehen und sorgte für Kritik.

Seit dem islamistischen Terror haben Geheimnisse der Staatsmacht eine ungeahnte Renaissance erlebt. Der Irakkrieg wurde mit zweifelhaften geheimdienstlichen Erkenntnissen legitimiert und Informationen wurden nur scheibchenweise an die Öffentlichkeit gegeben. Diese Geheimniskrämerei erhitzte die Gemüter und diskreditierte die Machthaber.

Doch diese Skepsis gegenüber Machtgeheimnissen ist eine vergleichsweise junge Haltung. Bis zum 18. Jahrhundert war das Geheimnis ein Zeichen von Macht und Ansehen. Der Fürst bewahrte seine göttliche Aura, indem er sich hinter allegorischen Gemälden versteckte. Erst nach und nach wurden Geheimnisse gelüftet – das Rad, die Druckerpresse, das Schießpulver und Amerika.

Die Aufklärung veränderte das Verhältnis zum Geheimnis radikal. Während vorher Geheimnisse geschützt und bewundert wurden, strebten die Aufklärer nach Transparenz. Der Körper sollte zum lesbaren Ausdruck des Inneren und sein Geheimnis sollte verbannt werden. Doch die Aufklärung selbst brachte wieder neue Geheimnisse hervor, wie die geheimen Bruderkulte der Freimaurer.

Heute leben wir in einer paradoxen Welt: Einerseits streben wir danach, jede Facette unseres Lebens ans Licht zu zerren, andererseits suchen wir nach Schutz vor der vollständigen Entdeckung des Privaten. Wir umgeben uns mit PIN-Codes, Kennwörtern und Firewalls. Doch je vehementer wir die Geheimnisse vertrieben, desto stärker haben sie uns eingeholt.

LESEN  Der Hype um Ben & Jerry’s Blondie Brownie Core

Es gibt ein “Menschenrecht auf Geheimnis”, wie Georg Simmel feststellte. Doch in Zeiten von Terrorgefahr und technischen Raffinessen gerät dieses Recht in Gefahr. Biometrische Merkmale werden in Personalausweise aufgenommen und die Personenkontrolle nimmt zu. Selbst Großhandelsunternehmen experimentieren mit Überwachungstechnologien wie RFID-Chips.

Eine Welt ohne Geheimnisse wäre jedoch der blanke Terror. Wir brauchen einen Rest an Ungewissheit, um morgens aufstehen zu können. Das Geheimnis ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit und eine Erweiterung des Lebens. Es ist eine Janusköpfigkeit des Geheimnisses, die eine Gefahr für jede demokratische Gesellschaft birgt. Denn Demokratie braucht Kulte, Kulte jedoch nicht zwangsläufig die Demokratie.

In einer durchrationalisierten Welt haben wir unsere eigenen Ersatzkulte geschaffen – die Welt der Waren, die Mode, das Großstadtcafé. Doch das Geheimnis bleibt ein essentieller Bestandteil unseres Lebens. Es hält die Spannung aufrecht und ermöglicht uns einen Raum für unsere Sehnsüchte und Fantasien.

Das Geheimnis ist ein Spiegel unserer menschlichen Natur. Es zu bewahren, bedeutet unsere Freiheit zu bewahren. In einer Welt ohne Geheimnisse wären wir verloren.