Carsten Stahl: Der kontroverse Anti-Mobbing-Influencer

Carsten Stahl: Der kontroverse Anti-Mobbing-Influencer

Wer wurde noch nie wegen seines Aussehens gehänselt? Diese Frage stellt Carsten Stahl und wartet gespannt auf die Reaktion der Kinder. In einer kleinen Aula einer Privatschule in Brandenburg hat er eine Übung vorbereitet, um auf das alltägliche Mobbing aufmerksam zu machen. Die Schulleitung hat ihn zu diesem Anlass zusammen mit einem Fernsehteam eingeladen. Die Aufnahmen dieser Aktion kann man noch heute auf YouTube sehen. Dort ist zu sehen, wie Carsten Stahl ein rothaariges Mädchen im Rollstuhl zu sich holt und sie fragt: “Warum hat man dich gemobbt?”.

Carsten Stahl ist ein Anti-Mobbing-Trainer und laut eigener Aussage der bekannteste in Deutschland. Vielen ist er noch als Schauspieler bei RTL2 bekannt, wo er einen Privatdetektiv mit großer Klappe spielte. Seine Bekanntheit reicht von Achtklässlern bis hin zu Bundestagsabgeordneten. Mit seiner Größe von 1,89 Metern, einem Gewicht von 112 Kilogramm und seinem auffälligen Tattoo bis an den Hals ist er unübersehbar. Stahl ist kein Sozialpädagoge, seine Sprache ist laut, aggressiv und emotional. In seinen Trainings spricht er Sätze wie: “Ihr denkt, ihr seid erwachsen, aber das seid ihr nicht.”

Ablehnung und Alternativen

Es gibt Politiker und Pädagogen, die seine Methoden als mögliche letzte Chance sehen, um zu Problemkindern durchzudringen. Sie schätzen, dass er ihre Sprache spricht. Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch Gegner, die Stahls Arbeitsweise für gefährlich halten und ihn als Gegner der Demokratie betrachten, möglicherweise sogar als rechts. In seinem Heimatbezirk Neukölln hat er starke politische Debatten ausgelöst, was schließlich dazu führte, dass der Bezirk beschloss, nicht mehr mit ihm zusammenzuarbeiten.

Das Mobbing-Problem ist groß und niemand weiß genau, wie es gelöst werden kann. Laut der Pisa-Studie 2017 gaben 16 Prozent der befragten Neuntklässler an, Mobbing erlebt zu haben. Hochgerechnet bedeutet das, dass jedes Jahr mindestens 50.000 Kinder und Jugendliche allein in Berlin betroffen sind.

Carsten Stahl setzt sich öffentlichkeitswirksam für dieses Thema ein. “Die Wahrheit ist”, sagt er, “dass sich jeden zweiten Tag ein Kind durch Mobbing das Leben nimmt.” Jährlich nehmen sich in Deutschland etwa 600 Jugendliche das Leben. Wie viele davon aufgrund von Mobbing handeln, ist jedoch nicht bekannt. Experten bestätigen jedoch, dass Personen, die gemobbt wurden, eher Suizidgedanken haben.

LESEN  Skifahren & Snowboarden im Ötztal: Entdecken Sie das ultimative Winterabenteuer

Carsten Stahls Engagement im Bundestag

Carsten Stahl begleitet den CDU-Abgeordneten Christoph Bernstiel drei Tage lang im Bundestag. Die beiden haben sich in einer Fernsehshow kennengelernt. Bernstiel möchte Stahl zeigen, wie Politiker arbeiten, und Stahl möchte seine Botschaften an den Mann bringen. Sie befinden sich an Tag zwei.

Mit großen Schritten und aufrecht gehend läuft Stahl durch die große Halle des Paul-Löbe-Hauses. Die Menschen drehen sich um und schauen ihm nach. Gerade erst fand vor dem Reichstag das Gelöbnis von 400 Soldaten statt. Jetzt wird getuschelt: Ist das nicht…? Plötzlich bleibt Stahl stehen und schüttelt die Hand eines Rekruten. “Genau wie ich stellst du dich schützend vor andere Menschen, sogar vor ein ganzes Land”, sagt Stahl. “Das ist deine Berufung – ich habe meine.”

Wenn man ihn zum Thema Mobbing befragt, wird man mit einem aufgebrachten Mann konfrontiert. Er führt eine Art Privatfehde mit der Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres. “Der Berliner Senat macht seit Jahren keine Prävention”, sagt Stahl. Obwohl es zahlreiche Präventionsprojekte gibt, wurde kürzlich auch vom Berliner Landesschülerausschuss bemängelt, dass es noch zu wenige sind.

Stahl’s Kommunikation kann man als populistisch bezeichnen – mit einem wahren Kern, aber stark übertrieben. “Mann, ick bin Berliner, ick hab’ ne große Fresse, welcher Berliner hat dit nich?”, sagt er. Er zitiert Konrad Adenauer: “Machen Sie sich erst einmal unbeliebt, dann werden Sie auch ernstgenommen.” Nach seiner Meinung hat er das bereits geschafft.

Bedrohung einer SPD-Politikerin durch Stahls Anhänger

Mirjam Blumenthal, Fraktionsvorsitzende der SPD in Neukölln, wird seit fast drei Wochen auf Facebook bedroht. Der Auslöser war ein Video von Carsten Stahl. Als Reaktion auf einen Antrag der Neuköllner SPD und Grünen, nicht mehr mit ihm zusammenzuarbeiten, reagierte Stahl wütend. In dem Video, das er ebenfalls auf Facebook veröffentlichte, sagte er unter anderem: “Sie werden dafür bezahlen, dass Sie sich erdreisten über mich zu richten und Lügen zu verbreiten.”

Blumenthal wurde auf ihrer Facebook-Seite von Nutzern bedroht. Einer schrieb: “Ich freue mich, wenn Herr Stahl Sie zur Rechenschaft zieht.” Ein anderer kommentierte: “Lass die Alte bluten, Carsten.”

Blumenthal bezeichnet das als Cybermobbing. Sie hat Screenshots einiger Nutzerprofile gemacht, auf denen das Eiserne Kreuz, der Deutschland-Adler oder Szenen aus Actionfilmen zu sehen sind. Sie sieht darin einen Versuch, unliebsame Menschen zum Schweigen zu bringen.

LESEN  Ich habe meinen VW für unter 500 Euro in ein kleines Zuhause umgebaut – Innerhalb von zwei Tagen Arbeit habe ich nun ein Bett und eine volle Kommode

Carsten Stahl als Marke

Stahl ärgert sich darüber und betont, dass er kein politischer Feind sei. “Sonst wäre ich doch nicht hier im Bundestag”, sagt er. Dass Neukölln nun ohne ihn arbeiten möchte, wird er verkraften. Seine Bekanntheit geht über seinen Heimatbezirk hinaus. 340.000 Menschen folgen ihm auf Facebook, und er sagt, er habe bereits 50.000 deutschen Schülern geholfen. Auf seiner Website können Fans “Stoppt Mobbing”-Merchandise kaufen. Außerdem bittet sein gemeinnütziger Verein “Camp Stahl” um Spenden. Bald wird ein Online-Seminar zum Verkauf angeboten, das Schulen nutzen können, die Stahl nicht persönlich besuchen kann. Er ist eine Marke, sogar die “New York Times” hat bereits über ihn berichtet.

Die Geschichte von Carsten Stahl ist folgende: Er wurde als Jugendlicher selbst gemobbt und hat Kampfsport betrieben, wodurch er seine Muskelberge erlangte. Er geriet jedoch auch auf die schiefe Bahn. Vor sechs Jahren wurde sein Sohn eingeschult und schon nach drei Tagen saß er weinend auf dem Bett, mit blutiger Lippe. Seine Klassenkameraden hatten ihn zugerichtet. Von diesem Moment an begann sein Kampf gegen Mobbing.

Stahl hat eine Vielzahl von WhatsApp-Nachrichten gesammelt, in denen Artikel verlinkt sind, Screenshots von Politikern, die sich solidarisch mit ihm zeigen, Fotos von seiner “Stoppt Mobbing”-Kampagne, an der sich lokale Politiker wie Mario Czaja und der Neuköllner Jugendstadtrat Falko Liecke beteiligt haben, E-Mails von Eltern, die um Hilfe bitten, bunt bemalte Briefe von Schülern, die sich bei ihm bedanken. Er hebt alles auf.

Kritik an Stahls Methoden

Carsten Stahl ist weder Psychologe noch Pädagoge, eher Demagoge – so werden ihm zumindest einige Kritiker vor. Um seine fachliche Qualifikation zu belegen, verweist er auf ein Schreiben aus dem Jahr 2016. Ein Schulpsychologe für Gewaltprävention und Krisenintervention hatte darin erklärt, Stahls Programm sei “ausgezeichnet” und “unbedingt empfehlenswert”.

Die Berliner Bildungsverwaltung will davon heute nichts mehr wissen. Sie bezeichnet das Schreiben als Einzelmeinung und gibt an, dass der Verfasser seine Meinung zu Stahl mittlerweile geändert habe. In der Bildungsverwaltung wird seine Arbeit “zunehmend kritisch” gesehen. Es gibt Stimmen aus der Schulaufsicht und der Schulpsychologie, dass Stahls Ton immer bedrohlicher und einschüchternder wirkt.

LESEN  Campingabenteuer rund um Stuttgart

Herbert Scheithauer, Professor für Entwicklungspsychologie an der Freien Universität Berlin, hat über 20 Jahre lang zum Thema Mobbing geforscht. Im Februar saß er mit Stahl in einer Anhörung des Bildungsausschusses. Es ging um den Tod eines Kindes aus Reinickendorf. Stahl hatte den Fall gegen den Willen der Eltern öffentlich gemacht und ignoriert, dass die Ursachen des vermeintlichen Suizids nicht geklärt waren. Für Stahl gab es nur einen Grund: Mobbing.

Scheithauer sagt: “Die Wirksamkeit von Stahls Programm ist meines Wissens nach nicht wissenschaftlich belegt.” Er könne zwar nicht ausschließen, dass Stahls Vorgehen “möglicherweise in einigen Fällen” helfen könne, betont jedoch, dass es keine kurzfristige Methode gibt, die nachhaltig gegen Mobbing wirkt. Im Gegenteil, falsch durchgeführte oder vorzeitig abgebrochene Maßnahmen könnten zu mehr Mobbing führen. Nachgewiesen haben sich langfristige Maßnahmen, bei denen alle Beteiligten, also Schüler, Eltern und Lehrer, eingebunden werden.

Carsten Stahl kämpft um seinen Ruf. Er hat Mirjam Blumenthal wegen übler Nachrede angezeigt und betont, dass er einem Kind nie eine Waffe an den Hals gehalten habe, wie sie in einem Facebook-Post behauptet hat. In Videos, die dem Tagesspiegel vorliegen, ist zu sehen, wie Stahl in einem “Eskalationstraining” eine Plastikpistole zieht und auf ein Kind zielt. Damit möchte er zeigen, wie schnell aus einem Streit tödlicher Ernst werden kann.

Politiker, die Carsten Stahl unterstützen, sind der Meinung, dass er diejenigen Kinder erreicht, mit denen die Politik oft nicht mehr in Kontakt kommt, weil sie bereits “auf der schiefen Bahn” sind. Sie bezeichnen die gegen ihn gerichteten Anschuldigungen als “unmögliche Diffamierung”. Doch in dieser ganzen Debatte geht die eigentliche Frage oft unter: Wie kann man sinnvoll gegen Mobbing vorgehen und welche Maßnahmen richten nur noch mehr Schaden an?

Carsten Stahl lässt sich von all dem nicht beirren. Wenn Kritik aufkommt, kontert er mit den positiven Reaktionen von Eltern und Schülern. Er fragt sich: Wie kann ich falschliegen, wenn ich diesen Menschen so viel gebe? Nach einem Seminar in Stralsund schrieb ihm eine Mutter: “Wir sind froh, dass du dir den Wind nicht aus den Segeln nehmen lässt und für unsere Kinder kämpfst. Hut ab und ganz großen Respekt für dich.”

Sind Sie oder Ihr Kind von Mobbing betroffen? Die Mobbing-Hotline Berlin-Brandenburg kann Ihnen helfen: 030/86 39 15 72. Bei Suizidgedanken erhalten Sie Hilfe unter der Nummer 0800/111 0 111.