Der männliche Blick: Das Tagebuch des “Male Gaze”

Der männliche Blick :  Aus dem Tagebuch des „Male Gaze“

Du denkst vielleicht, dass du mich nicht kennst, aber glaub mir, ich kenne dich. Seit langem begleite ich dich im Verborgenen. Du bemerkst mich nicht immer, aber ich sehe dich. Und das ist dir natürlich bewusst. Du weißt, dass ich dich ab und zu beobachte. Ob du etwas falsch machst.

Ich bin der Male Gaze, der männliche Blick. Dieses lustvolle Starren, das alles, was es erfasst, zu Objekten macht. Aber ich bin viel mehr als das. Nicht nur männlich. Ich bin auch Cis Gaze und Het Gaze. Ich bin all das, was du nicht bist. Oder nicht genug bist. Und trotzdem möchtest du so sein wie ich. Kannst du dich daran erinnern, als du das erste Mal das Bedürfnis hattest, einen Teil von dir zu verstecken? Um anderen zu gefallen? Um als richtig angesehen zu werden?

Ist es dir gelungen?

Ich bin der Blick, dem nichts genügt. Nein, ich bin nicht der stets verneinende Geist, das ist jemand anderes. Aber donnerstags spiele ich mit ihm Schach. Ich existiere an vielen Orten, am liebsten in den Tiefen deiner Gedanken. Doch ich spaziere auch durch Zeitschriften und über Kinoleinwände. Und über deine Schulter schaue ich dir fröhlich aus der Selfie-Kamera entgegen. Wusstest du, dass ich das Gegenteil eines Vampirs bin? Denn ich existiere nur als Spiegelbild.

Ich weiß nicht viel, aber ich habe viele Fragen. Wirklich?, frage ich, wenn du Lippenstift aufträgst. Wenn du dieses Kleid anziehst, um deine Brüste hervorzuheben. Wirklich nicht?, frage ich, wenn du es unterlässt.

Nichts als Versprechen

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Was bist du?, frage ich. Nicht: Wer. Was für ein Geschlecht? Ich möchte wissen, um welche Fragen ich dich als Nächstes bitten kann. Ich weiß, dass du begehrt werden willst, dass du geliebt werden willst. Manchmal möchtest du einfach nur gesehen werden, und dabei helfe ich dir. Ich sage dir, was schön ist. Was stark ist. Ich forme dich nach meinem Bild. Und wenn du dann alles tust, um mir zu gefallen, ändere ich meine Form und mache dich dafür schlecht, dass du mir gefallen willst.

Ich habe nichts zu bieten, aber viele Versprechen. Nächstes Mal werden sie dich lieben. Wenn du nur das Richtige trägst. Nächstes Mal werden sie dich beachten, wenn du nur deine Stimme änderst. Wie wirst du sprechen? Wie wirst du gehen? Als was wirst du dich vorstellen?

Ich bin dein ultimativer dominanter Partner, obwohl du mich nie darum gebeten hast. Ich herrsche durch Mangel. In meiner Welt gibt es kein Richtig, nur Falsch. Und Bestrafungen: Scham und Selbsthass. Aber keine Sorge, ich bin auch Ansporn. Bist du bereits gut genug?, ist eine meiner Lieblingsfragen. Die meisten antworten mit Nein und versuchen dann, das Nächste an sich zu optimieren, zu verstecken, sich anzupassen. Das erfreut mich ungemein. Denn sie kommen bald zu mir zurück und fragen, was sie als Nächstes tun sollen.

Die Wenigsten antworten mit Ja. Was mit ihnen geschieht, weiß ich leider nicht. Sie sind mir nie wieder begegnet.