Der Moment, in dem ich zum ersten Mal einen maßgeschneiderten Anzug trug

Der Moment, in dem ich zum ersten Mal einen maßgeschneiderten Anzug trug

Mit den Jahren sammelt man nicht nur an Erfahrungen, sondern oft auch an Gewicht. In den letzten zehn Jahren habe ich leider etwas mehr als fünf Kilo zugelegt. Doch diese zusätzlichen Pfunde haben sich nicht in meine Oberarme oder meinen Bizeps verteilt, sondern in meiner Anzughose, die irgendwann kaum noch zugehen wollte. Mein Komfort war auf ein Minimum geschrumpft. Zu allem Überfluss erklärte mir meine Frau auch noch, dass mein gesamter Anzug mittlerweile modisch veraltet sei. Es war klar: Ich brauchte einen neuen Anzug.

Ich verschwendete keine Zeit. Zielstrebig begab ich mich in die Anzug-Abteilung einer großen Modekette auf der Frankfurter Zeil und verließ sie knapp eine Stunde später mit einem blauen Anzug und 750 Euro weniger im Portemonnaie. Die Verkäuferin und ich waren sehr zufrieden mit dem Inhalt der großen Einkaufstüte. Mein Kollege Alfons Kaiser, Chefredakteur des F.A.Z.-Magazins und des Stil-Ressorts, hingegen war weniger begeistert: “Ganz nett”, sagte er, als ich ihn ein paar Tage später nach seiner Meinung fragte. Zwei Sekunden später fügte er hinzu: “Aber er ist von der Stange.”

Normalerweise sehe ich mich nicht als eitel. Aber ich möchte auch nicht nur “ganz nett” aussehen oder wie von der Stange. Besonders nicht, wenn ich mich für besondere Anlässe herausputzen muss.

Also versuchte ich es ein zweites Mal. Mein 40. Geburtstag stand bevor und ich überzeugte mich selbst davon, dass ich neben dem neuen blauen Anzug auch einen schwarzen Anzug brauchte. Was wäre zum Beispiel, wenn der erste Anzug schmutzig wird und ich schnell einen Ersatz benötige? Außerdem hatte ich nichts Passendes für eine Beerdigung. Und mal ehrlich: Ein Mann, der 40 wird, braucht einen schwarzen Anzug, oder?

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Diesmal wollte ich auf Nummer sicher gehen. Erstens nahm ich meine Frau mit und zweitens beschloss ich, einen Markenanzug zu kaufen. Mit meiner Frau und einem großzügigen Budget betrat ich den BOSS-Store am Frankfurter Goetheplatz. Leider waren alle Verkäufer bereits mit anderen Kunden beschäftigt. Nach einer längeren Wartezeit wurde ich schließlich bedient, allerdings eher nebenbei. Der Verkäufer nahm sich hauptsächlich seinen Stammkunden an, reichte mir aber gelegentlich Anzüge, die zwischen 1200 und 1700 Euro kosteten. Keiner davon passte auch nur annähernd, das konnte ich selbst sehen.

Der Verkäufer erklärte mir, dass das Problem nicht die Anzüge von BOSS seien, sondern meine Figur. Er formulierte es anders, aber im Grunde genommen sagte er, dass ich zu wenig Bizeps hätte. Das Angebot bestand also aus einem schlecht sitzenden Anzug für 1500 Euro, einem gestressten Verkäufer und einigen Bemerkungen über meine fehlenden Muskeln. Nein, danke!

Eine Woche später versuchte ich es ein drittes Mal, mit einer neuen Überlegung: Wenn meine Muskeln sich nicht dem Anzug anpassen wollen, vielleicht sollte dann eher der Anzug sich mir anpassen. Ein maßgeschneiderter Anzug sollte es richten! Nach einiger Recherche im Internet vereinbarte ich einen Termin in einem Herrenmodengeschäft in Wiesbaden. Eine erfahrene Verkäuferin half mir bei der Auswahl des Stoffs, der Anzahl der Knöpfe, des Innenfutters und der Farbe der Nähte. Insgesamt musste ich etwa 30 Entscheidungen treffen, von denen ich bei mindestens der Hälfte aufgrund meiner Ahnungslosigkeit oder mangelnden Modebewusstseins passen musste. Zum Glück führte mich die Verkäuferin mit freundlichen Empfehlungen sicher durch den Bestellprozess. Am Ende wurde ich vermessen: Beinlänge, Armlänge, Schulterbreite und Hüftumfang. Plötzlich war von fehlenden Muskeln keine Rede mehr, alles schien kein Problem zu sein.

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Der Preis war auch viel günstiger als erwartet: Nur 800 Euro insgesamt, kaum mehr als der blaue Anzug von der Stange. Das lag vor allem daran, dass meine Maße zwar hier in Deutschland genommen wurden, der Anzug selbst jedoch im fernen Osten maßgeschneidert wurde. Um genau zu sein, hatte ich keinen echten “Maßanzug” erworben, sondern nur eine “Maßkonfektion”. Die Maßkonfektion füllt die Lücke zwischen maßgeschneiderter Kleidung und Massenware. Der Unterschied besteht darin, dass der Kunde bei der Maßkonfektion anhand eines Standard-Größensystems vermessen wird und viele Zwischenschritte, einschließlich der Anfertigung einer Probe, entfallen. Die Verkäuferin versicherte mir, dass der Unterschied kaum sichtbar sei, der Preis jedoch drei- oder viermal niedriger.

Vier Wochen später war der neue Anzug fertig. Die Hose wurde noch um einen Zentimeter erweitert und die Ärmel ein wenig gekürzt. Eine Woche später fand die finale Übergabe statt. Ich zog den fertigen Anzug ein letztes Mal an und betrachtete mich im Spiegel. Um ehrlich zu sein, der große “Wow!”-Effekt blieb aus. Der Anzug sitzt sehr gut, aber er macht mich nicht zum zweiten Apollo. Im Fußball würde man von einem soliden 2:0 sprechen.

Um die Wirkung auf die breite Masse zu testen, trug ich den Anzug am nächsten Tag ins Büro. Tatsächlich gratulierten mir einige Kollegen unaufgefordert zu meinem “schönen Anzug”, aber den meisten war mein Erscheinungsbild völlig egal. Doch unser Stil-Ressortleiter war anderer Meinung. “Nahezu perfekt!”, lobte er mit Kennerblick innerhalb von zwei Sekunden. Aber es sei immer noch kein echter Maßanzug, oder?

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