Die Aleviten: Eine kulturelle und religiöse Tradition

Die Aleviten: Eine kulturelle und religiöse Tradition

Im Rückblick spielt der 29. Mai 2013 eine wichtige Rolle in der Vorgeschichte der darauf folgenden Gezi-Proteste. An diesem Tag wurde der Grundstein für eine dritte Brücke über den Bosporus gelegt – eine Entscheidung, die bei den Aleviten auf starke Ablehnung stieß. Diese Namensgebung zu Ehren von Sultan Selim, der im 16. Jahrhundert für grausame Massaker an den Vorfahren der Aleviten verantwortlich war, wurde von ihnen als beleidigend empfunden. Die Geschichte der Aleviten ist eng mit Leid und Unterdrückung verbunden, angefangen mit der Ermordung des Prophetenenkels Hüseyin im Jahre 680. Diese Leidensgeschichte zog sich bis in die heutige Zeit fort, mit tragischen Ereignissen wie der Zerstörung der alevitischen Provinz Dersim im Jahr 1938, bei der tausende Menschen ums Leben kamen, den Pogromen in Kahramanmaraş 1978 und Çorum 1980 sowie dem Massaker von Sivas im Jahr 1993, bei dem 37 Menschen während eines alevitischen Festivals den Tod fanden.

Die Namensgebung der Bosporusbrücke wird von den Aleviten als weiteres Zeichen für die zunehmend anti-alevitische Politik der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP interpretiert. Kritiker werfen der Regierung vor, die Spannungen zwischen den Aleviten und der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit schüren zu wollen.

Die Auswirkungen des Bürgerkriegs in Syrien

Der Bürgerkrieg in Syrien spielt eine zentrale Rolle bei den aktuellen Konflikten. Nachdem der ehemalige türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan Baschar al-Assad den Rücken gekehrt hatte, bezeichnete er ihn als Terroristen und Diktator. In ihren Anti-Assad-Kampagnen behaupteten Erdoğan und andere Mitglieder der türkischen Regierung oft, dass türkische Aleviten aus religiösen Gründen mit den alawitischen Herrschern Syriens sympathisierten. Dies führte bei den Aleviten zu Ängsten, dass die Betonung der konfessionellen Komponente des Bürgerkriegs genutzt werden könnte, um anti-alevitische Stimmungen in der Türkei weiter anzufachen. Dadurch könnte sich die Polarisierung der türkischen Gesellschaft weiter verschärfen und das konservativ-sunnitische Wählerklientel enger an die AKP binden. Es sollte jedoch beachtet werden, dass die arabischen Alawiten, zu denen auch die Aleviten im Südosten der Türkei gehören, nur wenig Gemeinsamkeiten mit den türkischen und kurdischen Aleviten haben. Obwohl sie ähnliche Namen tragen, unterscheiden sie sich in Bezug auf ihre geschichtliche Tradition, Glaubensvorstellungen, Rituale und soziale Strukturen erheblich.

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Die Beteiligung der Aleviten an den Gezi-Protesten hatte neben ökologischen und basisdemokratischen Anliegen auch spezifische Gründe. Die Tatsache, dass sieben der elf zivilen Todesopfer der Proteste Aleviten waren, verstärkte das Bedrohungsgefühl innerhalb der alevitischen Gemeinschaft. Der überproportionale Anteil der Aleviten unter den Opfern bedeutet jedoch nicht, dass die Mehrheit der Protestierenden Aleviten waren. Es spiegelt vielmehr die asymmetrische Gewaltanwendung der Sicherheitskräfte wider, je nach Ort des Geschehens, Zusammensetzung der Demonstranten und Medienpräsenz. Während es bei den Protesten im Gezi-Park und anderen zentralen Orten in Istanbul keine Todesfälle gab, wurden die meisten Opfer an Orten außerhalb des medialen Fokus und in sozial benachteiligten Stadtteilen gefunden. Ein Beispiel ist Okmeydanı, ein Stadtteil mit einem hohen Anteil an Aleviten, wo es regelmäßig zu Ausschreitungen zwischen linken Gruppen und Sicherheitskräften kommt. Es scheint, dass der Staat in traditionell regierungskritischen Gebieten, die oft auch stark von Aleviten geprägt sind, mit stärkerer Gewalt gegen Oppositionelle vorgeht.

Wer sind die Aleviten?

Die Frage, inwiefern sich die Aleviten von sunnitischen Muslimen unterscheiden, wird bis heute kontrovers diskutiert. Etwa zehn bis maximal zwanzig Prozent der türkischen Bevölkerung gehören dem Alevitentum an. Davon sind etwa zwei Drittel türkischsprachig, das restliche Drittel spricht Kurmanci oder Zazaki, nordwestiranische Sprachen. Obwohl Kurden sowohl Kurmanci- als auch Zazakisprecher als Kurden betrachten, ordnen Sprachwissenschaftler meist nur das Kurmanci dem Kurdischen zu. Die Zugehörigkeit zum Alevitentum hat auch einen stark ethnischen Charakter, bedingt durch jahrhundertelange Eheschließungen innerhalb der alevitischen Gemeinschaften und strikte soziale Grenzen zwischen Aleviten und Sunniten. Mischehen stellen auch heute noch ein soziales Problem dar.

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Die Aleviten unterscheiden sich in ihrer Religionspraxis und ihren religiösen Vorstellungen sowohl vom sunnitischen als auch vom schiitischen Islam. Die Frage nach der Zugehörigkeit des Alevitentums zum Islam ist umstritten. Im alevitischen Glauben spielen schiitische Motive eine wichtige Rolle, insbesondere die Erinnerung an das Martyrium Hüseins in Kerbela, das im alevitischen Cem-Ritual kollektiv zelebriert wird. Die Verehrung der zwölf Imame, insbesondere von Imam Ali, ist ein zentraler Bestandteil des alevitischen Glaubens. Neben schiitischen und sufischen Einflüssen unterscheiden sich die Aleviten auch in wesentlichen Punkten vom islamischen Mainstream. Sie erkennen die Rechtstradition des islamischen Gelehrten nicht an und die Scharia spielt in ihrem Normensystem nur eine metaphorische Rolle. Traditionelle islamische Praktiken wie das Gebet, die Pilgerfahrt nach Mekka, das Fasten im Ramadan und das Almosengeben haben im traditionellen Alevitentum kaum Bedeutung. Stattdessen haben die Aleviten ihre eigenen Gebets- und Andachtsformen, Pilgerstätten und Fastenpraktiken, die sich nur wenig mit anderen muslimischen Traditionen überschneiden.

Religionsgeschichtliche Deutungen

Die religiöse Vielfalt der Aleviten spiegelt sich auch in ihren religiösen Wurzeln wider. Einige westliche Beobachter sehen christliche Einflüsse im Alevitentum, während andere vor-islamische, alttürkisch-schamanische Praktiken betonen. Es gibt auch religiöse Traditionen des Sufismus im Alevitentum. Die historischen Wurzeln des Alevitentums in der Türkei werden von vielen als eine Symbiose türkischer Kultur mit islamischer Religion betrachtet. Es sollte jedoch beachtet werden, dass diese Sichtweise ein Produkt des türkisch-nationalistischen Diskurses ist und erst vor etwa 100 Jahren entstand. Bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Gruppen, die heute als Aleviten bezeichnet werden, von den Osmanen als Häretiker betrachtet. Erst in den letzten Jahrzehnten des Osmanischen Reiches etablierte sich die Vorstellung einer türkischen und alevitischen Kontinuität.

Es gibt tatsächlich Praktiken und Vorstellungen im Alevitentum, die auf vorislamische Praktiken der Turkvölker hinweisen. Es gibt jedoch auch viele alevitische Praktiken und Vorstellungen, die auf andere Traditionen verweisen. Die Vielfalt der alevitischen Gemeinschaften und Traditionen in Anatolien spricht gegen eine einheitliche Ursprungsquelle. Nicht alle Aleviten sind ethnische Türken. Kurdische und insbesondere Zaza-Aleviten haben Besonderheiten, die sie mit religiösen Traditionen des iranisch-kurdischen Kulturkreises verbinden. Es ist wichtig zu verstehen, dass sich die Religionstraditionen, die wir heute als Alevitentum bezeichnen, über einen längeren Zeitraum entwickelt haben und ihre Träger mit unterschiedlichen religiösen Traditionen in Kontakt standen. Diese Traditionen umfassen lokale christliche Elemente sowie sufisch-charismatische Ausprägungen des Islam.

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Alevitische Renaissance und aktuelle Konflikte

Ab den 1950er-Jahren beschleunigte die Urbanisierung den Niedergang der traditionellen alevitischen Sozial- und Religionskultur, die auf engen Gemeinschaftsstrukturen basierte. Das Alevitentum verlor für viele Menschen seine Bedeutung und alevitische Identitäten wurden weitgehend säkularisiert. In den 1960er-Jahren wendeten sich viele junge Aleviten linken politischen Ideologien zu und begannen, das Alevitentum im Kontext dieser Ideologien neu zu interpretieren. Bis in die 1980er-Jahre wurden alevitische Anliegen in der türkischen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Aleviten begannen jedoch, sich zu organisieren und soziale und institutionelle Diskriminierung anzuprangern. Sie forderten Anerkennung als eigenständige kulturelle und religiöse Gemeinschaft. Die Wahrnehmung einer Bedrohung durch das Erstarken islamischer Bewegungen in den 1980er- und 1990er-Jahren verstärkte das Gefühl der Aleviten, ihre Identität zu betonen. Das Massaker von Sivas spielte dabei eine wichtige Rolle.

Die Aleviten haben bestimmte Forderungen an den Staat, mit denen sie sich weitgehend einig sind. Dazu gehören die Abschaffung oder Umstrukturierung des staatlichen Präsidiums für Religionsangelegenheiten, das Aleviten nicht angemessen berücksichtigt, eine umfassende Überarbeitung des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen, eine angemessene finanzielle Unterstützung der Aleviten durch den Staat und die Anerkennung der alevitischen Cemevis als Gebetshäuser. Die Kontroverse um den Status der Cemevis zeigt, wie politische und religiöse Gesichtspunkte in der Frage der Anerkennung der Aleviten miteinander verknüpft sind. Heutzutage wird die religiöse Identität der Aleviten in der türkischen Öffentlichkeit nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt und ihre Eigenständigkeit weitgehend anerkannt, auch von der AKP-Regierung.