von Lalon Sander
In den nächsten Jahrzehnten wird etwas passieren, was schon seit Millionen Jahren nicht mehr vorgekommen ist: In der Arktis wird es praktisch kein Meereis mehr geben.
Der schwindende Eispanzer der Arktis
Die Grafik zeigt deutlich, dass das Eis am Nordpol sowohl im Sommer als auch im Winter seit Jahren immer weniger wird. Im Vergleich zu den Jahren ab 1980, in denen es insgesamt noch mehr Eis gab, liegen die aktuelleren Jahre meist darunter.
Am Mittwoch, den 11. Oktober, betrug die Fläche des arktischen Meereises 4,8 Millionen Quadratkilometer. Das sind 31,0 Prozent weniger als im Durchschnitt des Zeitraums von 1981 bis 2010.
Das Auf und Ab der Meereis-Fläche ist den arktischen Jahreszeiten geschuldet. Im Winter, wenn die Sonne untergeht und der Nordpol ein halbes Jahr dunkel ist, breitet sich das Meereis aus und erreicht im März seinen Höhepunkt. In besonders kalten Jahren erreicht es sogar das Beringmeer zwischen Alaska und Russland sowie die deutsche Ostseeküste. Im Frühjahr, wenn die Sonne wieder aufgeht, taut das Eis und erreicht meist im September seine geringste Ausdehnung.
Die Halbierung der Eisfläche seit vorindustrieller Zeit
Betrachtet man die Eisfläche am Ende des Sommers, wird deutlich, wie stark das Meereis am Nordpol im Laufe der Jahre zurückgegangen ist. Rekonstruktionen aus Logbüchern von Schiffen und Beobachtungen von Wetterstationen zeigen, dass das Meereis in der vorindustriellen Zeit von 1850 bis 1900 – einem Zeitraum, der noch nicht vom Klimawandel beeinflusst war – knapp acht Millionen Quadratkilometer bedeckte. Inzwischen erreicht das Jahresminimum kaum noch vier Millionen Quadratkilometer und sank im Jahr 2012 sogar unter drei Millionen Quadratkilometer. Wenn die bedeckte Fläche weniger als eine Million Quadratkilometer beträgt, sprechen Forscher von einer “praktisch eisfreien Arktis”.
Der Bericht des IPCC: Eine baldige eisfreie Arktis?
Modellrechnungen im aktuellen Bericht des Weltklimarats IPCC zeigen, dass die Arktis Mitte des Jahrhunderts eisfrei sein könnte, wenn kein ausreichender Klimaschutz betrieben wird. Drei verschiedene Szenarien verdeutlichen den möglichen Verlauf der Meereisschmelze: Gibt es keine Änderungen im Klimaschutz (gelb), wird der Klimaschutz verstärkt (blau) oder reduziert (rot)?
Laut den Modellen im IPCC-Bericht lässt sich eine eisfreie Arktis in den kommenden Jahrzehnten noch verhindern, wenn konsequenter Klimaschutz betrieben wird. Allerdings kamen Meeresforscher in einer Studie des Fachmagazins “Nature Communications” zu dem Schluss, dass diese Modelle die Meereisschmelze bisher unterschätzt haben.
Aktuelle Studie: Eine eisfreie Arktis trotz konsequentem Klimaschutz
Die Ergebnisse einer neuen Studie lassen darauf schließen, dass die Arktis in den kommenden Jahrzehnten den ersten eisfreien Sommer erleben wird – selbst dann, wenn ab sofort konsequenter Klimaschutz betrieben würde. Dirk Notz vom Hamburger Institut für Meereskunde und Ko-Autor der Studie erwartet den ersten eisfreien Arktis-Sommer bereits in den 2030er oder 2040er Jahren. In den günstigsten Klimaschutzszenarien könnte eine eisfreie Arktis nur in den wärmsten Sommern eintreten.
Die Beschleunigung des Klimawandels durch die Eisschmelze
Das schmelzende Meereis ist ein Zeichen des menschengemachten Klimawandels, der sich in der Arktis fast viermal so stark bemerkbar macht wie anderswo. Anders als die schmelzenden Gletscher in Grönland trägt das schmelzende Meereis nicht direkt zum Meeresspiegelanstieg bei, da es bereits im Wasser ist. Allerdings beschleunigt es den Klimawandel, da die helle gefrorene Eisfläche Sonnenstrahlung reflektiert, während die dunkle Wasseroberfläche Wärme aufnimmt.
“Die Arktis ist das eindeutigste Frühwarnsystem für den Klimawandel”, sagt Meeresforscher Dirk Notz. “Das abschmelzende Meereis zeigt, wie mächtig wir als Menschen geworden sind: Wir sind in der Lage, ganze Landschaften verschwinden zu lassen.”
Geopolitische Konflikte durch eine eisfreie Arktis
Eine eisfreie Arktis birgt ein enormes Konfliktpotenzial. Seit Mitte der 2000er-Jahre sind die Nordostpassage und die Nordwestpassage regelmäßig durch die Arktis befahrbar. Dadurch verkürzt sich die Entfernung zwischen Europa und Nordamerika nach Ostasien um etwa ein Drittel für Frachtschiffe, die sonst den Suez-Kanal oder den Panama-Kanal nutzen. Die USA und Kanada befinden sich beispielsweise bereits seit 15 Jahren in einem Konflikt darüber, ob die Nordwestpassage kanadische oder internationale Gewässer sind.
Neben dem internationalen Schiffsverkehr könnte es auch mehr regionalen Verkehr geben, insbesondere zu bereits existierenden Abbaugebieten, die derzeit über Land schwer erreichbar sind. In der Arktis selbst befinden sich Öl- und Gasreserven, an denen unter einem eisfreien Polarmeer sowohl Russland als auch China interessiert wären.