Die Revolution, die wir gerade alle erleben, kann man treffend mit einem Bonmot von Werner Enke beschreiben: “Wie lebten die Menschen vor der Erfindung von PC und Smartphone? Man weiß es nicht, sie sind ja alle ausgestorben.” Nach der Erfindung der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks ist das Internet die vierte Medienrevolution der Menschheit. Um zu verstehen, wie sehr neue Medien unser Denken und Verhalten prägen, lohnt sich eine Zeitreise zu den Anfängen des Buchdrucks. Eine aktuelle Ausstellung in Venedig zeigt erstaunliche Parallelen zwischen der Gutenberg-Galaxis und der digitalen Revolution von heute.
Das Silicon Valley der Renaissance
Venedig war das Silicon Valley der Renaissance. Im zentralen Viertel zwischen Markusplatz und Rialtobrücke hatten sich nach dem Tod von Johannes Gutenberg im Jahr 1468 dutzende Druckereien niedergelassen, die fast alle von deutschen Einwanderern betrieben wurden. In dieser aufregenden Zeit gab es Gründungen, Trennungen, geniale Erfindungen und Spionage – vergleichbar mit den Garagenfirmen im Kalifornien vor der Jahrtausendwende. Nicolas Jenson, ein französischer Maler und Münzschneider, der als Industriespion nach Mainz geschickt wurde, flüchtete nach Venedig und machte in den folgenden zehn Jahren ein riesiges Vermögen mit Neuauflagen aller Art.
Risikokapital für einen boomenden Markt
Warum gelang das in Venedig und nicht in Städten wie Straßburg, Mainz oder Bamberg, wo der Buchdruck erfunden wurde? Die damals reichste Handelsmetropole der Welt bot ausreichend Risikokapital für die Experimente auf dem aufstrebenden Markt. Man brauchte nicht nur spezialisierte Setzer und Korrektoren, sondern auch viel Startkapital – ähnlich wie für Computer- und Internetprodukte heute. Martin Lowry beschrieb bereits vor 40 Jahren, welche Herausforderungen die venezianischen Drucker meistern mussten: Konkurrenz, Fälschungen, fehlende Gewissheit, ob ein gedrucktes Werk einzigartig war, und die Gefahr eines Marktzusammenbruchs durch Epidemien. Für Hightech-Materialien wie Papier, Metalllegierungen und Spezialtinte wurden hohe Vorkosten fällig.
Verbot der Druckerei und die Debatte um Massentexte
Die Technologie des Buchdrucks wurde nach Venedig von einfachen Zuwanderern gebracht – vergessene deutsche Pioniere wie Johann von Speyer, Peter Uglheimer, Kaspar von Dinslaken und Johann Rauchfass. Kapital erhielten sie von den wohlhabenden Fernhändlern, die ihre Gewinne seit jeher in neue Technologien investierten. Das schnelle Geld aus dem Buchdruck führte nicht nur zu einem Gründerboom, sondern auch zu Chaosclubs und Debatten über die Macht der Massentexte. Ähnliche Fragen, die heute im Zusammenhang mit dem Internet diskutiert werden, tauchten bereits damals auf: Sollte die Druckerei mit ihren unkontrollierten Massentexten verboten werden? Macht die Verfügbarkeit von Büchern die Menschen dümmer? Welche Verschwörungen gehen in den Druckereien vor sich?
Aldus Manutius: Der Steve Jobs des Buches
Im Jahr 1490 kam Aldo Manuzio nach Venedig und veränderte alles. Er wurde unter seinem lateinischen Namen zum Steve Jobs des Buches. Manutius hatte lange und gründlich über das neue Medium nachgedacht. Er wusste, dass er für sein Lebensprojekt Freibriefe, Kapital, Geschäftspartner, Beschützer und Märkte brauchte. Sein Ziel war es, Bücher für jedermann zu drucken. Die Ausstellung in Venedig präsentiert noch bis zum 19. Juni die unschätzbaren “Aldinen” – epochale Ausgaben von Dante, Aristoteles, Vergil und Hesiod aus den berühmtesten Bibliotheken der Welt. Diese waren viel kleiner und leichter als die schweren Oktavbände der Bibeln, Klassiker und Kirchenväter. Die “Aldinen” wurden sofort zu Weltbestsellern und Statussymbolen.
Die Macht des Wissens – auf Reisen, im Bett und auf dem Schiff
Manutius’ revolutionäre Schriftgestaltung prägt bis heute das digitale Schreiben. Die Interpunktion mit Komma und Punkt erscheint erstmals 1496 in Pietro Bembos Naturdialog “De Aetna”. Die gedruckte Revolution schuf ihre eigene ästhetische Sprache. In der Ausstellung werden nicht nur die Bücher gezeigt, sondern auch private Tafelbilder, die mit der Buchdruckrevolution aufblühten. Diese Bilder enthielten die Sehnsuchtswelt der Antike mit Naturgefühl, Erotik und verborgenem Wissen. Sie zeigen adlige Studenten, verwöhnte Kurtisanen und graubärtige Gelehrte, die wissend in die Ferne blicken und bereits eine neue Welt bewohnen. Diese neue Welt sollte später von den europäischen Schiffen voller Bücher besiedelt werden. Es ist erstaunlich, dass die Gutenbergepoche vor 500 Jahren Europas globale Dominanz einläutete – und nun mit ihr untergeht.
Die Ausstellung in Venedig ist ein beeindruckendes Zeugnis für die revolutionäre Kraft des Buchdrucks und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft. Sie verdeutlicht, wie sehr die Geschichte sich wiederholt und wie eng die Gutenberg-Galaxis mit der digitalen Welt verknüpft ist. Es ist eine Einladung, die Vergangenheit zu erkunden und daraus für die Gegenwart zu lernen.