Wir lassen die Vergangenheit niemals hinter uns – wir sammeln nur an. Dieses Zitat von J. Jackson aus “Home Town” bringt das Phänomen der Kumulation auf den Punkt. Ein eindrucksvolles Beispiel für kumulative Prozesse ist der “Berg der akkumulierten Eleganz”, den der chinesische Kaiser Wanli im 16. Jahrhundert in Peking errichten ließ. Von unten betrachtet ist dieser Berg ein einfacher Steinklotz, aber auf seiner Spitze thront ein wunderschöner Palast. Diese “akkumulierte Eleganz” verdeutlicht, dass sich durch kumulative Prozesse allmählich und ungewollt etwas raffiniertes, Feines oder sogar Riesiges entwickeln kann.
Kumulation, das bedeutet Häufung. Es beschreibt die Entstehung von etwas durch einen graduellen Prozess der Ablagerung. Schichten des bereits Geschehenen und oft Vergessenen lagern sich peu à peu ab und bilden einen Kumulus – einen Haufen, der wie etwas Eigenständiges wirken kann. Ein Gebirge entsteht zum Beispiel über Millionen von Jahren durch die Ablagerung von Sandschichten. Jede einzelne Schicht ist noch deutlich erkennbar. Ein Waldboden entsteht durch die Zusammenpressung von Laubschichten über Jahre hinweg. Der Waldboden ist eine eigene Realität und nicht mehr das Laub selbst, sondern Teil einer neuen Entität.
Es ist erstaunlich, dass der Begriff “Kumulation” im sozialwissenschaftlichen Bereich kaum Anwendung findet, abgesehen von der “ursprünglichen Akkumulation” im marxistischen Kontext. Dabei sind es gerade die graduellen Anhäufungen von Sitten, Gebräuchen, Werten und Normen, die offensichtlich zu einem Gesamtzustand wie beispielsweise der “Rechtskultur” führen. Die Sozialwissenschaftler sollten sich viel intensiver mit Kumulationsprozessen befassen.
In diesem Artikel widme ich mich der Kumulation aus sozialwissenschaftlicher Sicht und unterscheide dabei drei Arten: die biologische, die kulturelle und die individuelle Kumulation.
“Kompressions”- und “Meliorations”kumulation
Die Zutaten für diese neue akkumulierte Realität sind Materie, Aufhäufung, Veränderung und vor allem Zeit. Es gibt zwei Arten von kumulativen Prozessen, die unterschieden werden sollten, um nicht durcheinanderzukommen.
Ein “Kompressionsprozess” ist der kumulative Prozess der Anhäufung und Verdichtung. Ähnlich wie beim Laub wird hier das Obere das Untere zusammendrücken, und es entsteht unter Druck etwas, das noch an die angesammelten Laubschichten erinnert, aber gleichzeitig eine komprimierte Realität darstellt. Ähnliche Kumulationsprozesse finden wir auch bei menschlichen Traditionen, bei denen alte Bestandteile immer wieder auftauchen und hauptsächlich Handlungsanweisungen für das aktuelle Leben geben. Ein Beispiel dafür ist die rosa Schleife im britischen House of Commons zur Befestigung des Degens.
Der andere kumulative Prozess ist der “Meliorationsprozess”. Hierbei führen schrittweise Veränderungen dazu, dass sich eine Qualität herausarbeitet und sich zunehmend verbessert. Ein bekanntes Beispiel dafür ist das menschliche Auge, dessen Entwicklung von lichtempfindlichen Hautpartien zu einer komplexen anatomischen Struktur führte. Ein weiteres Beispiel ist die “harmonisch rationalisierte” Musik, bei der das Zusammenspiel verschiedener Töne zu einem mehrhundertköpfigen Klangkörper führt. Beide Beispiele zeigen, wie eine kumulative Weiterentwicklung bereits bestehender Bestandteile zu etwas Neuem führt.
Biologische Kumulation
Die Schwierigkeit, die Evolution der Arten zu verstehen, liegt vor allem in den enormen Zeitdimensionen, die für dieses graduelle Entstehen erforderlich sind. Die Vorstellung von Zwischenformen, wie der Übergang von Flossen zu Füßen oder von Armen zu Flügeln, bereitet ebenfalls Probleme. Es fällt dem Menschen schwer zu akzeptieren, dass er Teil der Natur ist und sich dem Wettbewerb ums Überleben nicht entziehen kann. Doch die postulierten Einzigartigkeiten des Homo Sapiens wurden auch bei anderen Tierarten entdeckt. Biologisch betrachtet sind wir nichts Besonderes.
Es wird vermutet, dass der Unterschied zwischen Hominiden und Affen auf eine einzige Mutation im Hirnwachstum zurückzuführen ist. Die kumulative Evolution der Arten lässt sich anschaulich mit dem Bild eines Berges beschreiben. Von oben betrachtet sehen wir eine komplexe biologische Lebensform, die wir uns nur schwer erklären können. Doch wenn wir um den Berg herumgehen, entdecken wir einen sanften Pfad, der uns allmählich zum Gipfel führt. Die Lebensform konnte mit genügend Zeit problemlos den Gipfel erreichen.
Biologische Kumulation ist äußerst konservativ und hat bestehende Merkmale nie vollständig ausgetauscht, sondern ihre Funktion verschoben. Fledermäuse fliegen beispielsweise mit den Händen, die sie mit anderen Säugetieren teilen. Auf der Grundlage einer bereits vorhandenen Handstruktur konnte so eine Flügelstruktur entstehen.
Kulturelle Kumulation
Kultur lässt sich gut als Aufhäufung von Handlungsformen und Weltwahrnehmungen verstehen, die manchmal im Widerspruch zueinander stehen können, aber dennoch gemeinsam auftreten. Menschen in Deutschland drücken sich zum Beispiel nach heidnischer Sitte die Daumen, obwohl dies nicht mit dem Anspruch einer vom Christentum geprägten Kultur vereinbar ist. Kultur ist nicht logisch, sondern übermittelt und verändert. Bei der Entstehung kultureller Kumulation spielt der “Wagenhebereffekt” eine entscheidende Rolle. Kumulative kulturelle Prozesse basieren auf Nachahmung und Innovation. Eine Generation macht etwas auf eine bestimmte Weise, die nächste Generation übernimmt es und fügt möglicherweise einige Modifikationen oder Verbesserungen hinzu. Dieser Prozess setzt sich fort, bis neue Veränderungen erfolgen. Kultur lässt sich also nicht logisch erklären, sondern basiert auf Erfahrungen und Weitergaben über Generationen hinweg.
Ein Beispiel für kulturelle Kumulation ist die Mathematik. Sie wurde nicht auf einmal erfunden, sondern durch kumulative Weiterentwicklungen bereits vorhandener Konzepte. Die Grundlage der Mathematik war anfangs sehr einfach, bis abstrakte Zahlworte entstanden, die heute komplexe Berechnungen ermöglichen.
Individuelle Kumulation
Individuelle Kumulation ist auch als Lernen bekannt. Es geht darum, durch Übung und Training über sich selbst hinauszuwachsen. Es gibt Lernprozesse, die biologisch gesteuert sind, wie das Laufen und das Sprechen, aber dennoch Übung erfordern. Andere Kulturtechniken wie das Fahrradfahren, das Schwimmen oder das Lesen erfordern hingegen Übung und Training. Lernen durch Übung ist ein kumulativer Prozess, bei dem das Individuum sich selbst herausfordert und über sich selbst hinauswächst. Dabei kann Übung zu implizitem Wissen führen, das unbewusst angewendet wird, oder zu explizitem Wissen, das durch Lernen erworben wird.
Insgesamt sind kumulative Prozesse in der biologischen, kulturellen und individuellen Entwicklung allgegenwärtig. Ohne sie wäre keine Entwicklung denkbar. Wir sollten dies im Hinterkopf behalten, auch wenn es um Fragen des Urheberrechts geht. Jede Entwicklung basiert auf kumulativen Erfolgen und kann nicht auf ein einzelnes Werk reduziert werden.