Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind allgemein bekannt, aber es gibt immer noch Bereiche, die nicht ausreichend erforscht sind. Einer dieser Bereiche betrifft die unethischen medizinischen Experimente und erzwungene Forschung unter dem Regime. Es gibt noch viele Fragen zu diesem Thema, wie die Anzahl der Opfer, wer diese Opfer waren und welche Art von Experimenten und Forschung durchgeführt wurden.
Bislang gab es keine umfassende Studie zu diesem Thema, sondern nur eine teilweise Schätzung der Opferzahlen, die sich auf die Experimente beim Nürnberger Ärzteprozess bezieht. Die vorliegende Untersuchung liefert nun erstmals belastbare Ergebnisse über die verschiedenen Kategorien von Opfern. Dabei werden nicht nur Opfergruppen identifiziert, sondern auch individuelle Lebensgeschichten rekonstruiert, um ein umfassendes Bild zu erhalten.
Die Forschung zu den Opfern von Nazi-Medizinversuchen stellt eine dringend notwendige Ergänzung zu den bisherigen Bemühungen dar, die Opfer zu entschädigen. In der Vergangenheit wurden die Opferzahlen systematisch unterschätzt, was zu erheblichen Problemen bei der Entschädigung der Überlebenden führte. Erst durch die Analyse von Tausenden von Entschädigungsakten in verschiedenen Ländern und Institutionen konnte dieses Missverständnis korrigiert werden.
Für dieses Projekt wurden umfangreiche Archivrecherchen durchgeführt, um biografische Daten der Opfer zu sammeln und miteinander zu verknüpfen. Dabei wurden sowohl objektive Dokumente als auch subjektive Berichte berücksichtigt, um ein möglichst vollständiges Bild der Opfer zu erhalten. Die Ergebnisse werden hier als Kohorten präsentiert, um die Anonymität der Opfer zu wahren. Alle Daten sind in einer verifizierbaren Datenbank erfasst.
Die Definition von unethischer Forschung in diesem Projekt umfasst sowohl den erzwungenen Charakter der Experimente als auch den Ort, an dem sie durchgeführt wurden. Dazu gehören klinische Versuche in psychiatrischen Krankenhäusern, Experimente an KZ-Häftlingen und Kriegsgefangenen, die “Euthanasie”-Tötungen von Psychiatriepatienten zur Gewinnung von Körperteilen für die Forschung sowie die wissenschaftliche Untersuchung von Opfern in Ghettos und Konzentrationslagern.
Die Organisation und Methodik der Forschung ist ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Studie. Die Experimente wurden von renommierten Forschungseinrichtungen und Förderagenturen durchgeführt, was darauf hinweist, dass sie Teil des etablierten medizinischen Forschungswesens waren. Dabei ist zu beachten, dass einige Experimente als Pseudowissenschaft angesehen wurden, während andere innovative Forschung darstellten. Die Unterscheidung zwischen diesen verschiedenen Arten von Experimenten und Forschung war eine Herausforderung, aber entscheidend für die Genauigkeit der Ergebnisse.
Bei der Identifizierung der Opfer wurden strenge Kriterien angewendet, um die Glaubwürdigkeit der Aussagen zu gewährleisten. Der hohe Umfang von Entschädigungsakten macht es erforderlich, zwischen verifizierten Opfern und solchen zu unterscheiden, deren Angaben noch nicht bestätigt wurden. Dies ermöglicht es, belastbare Mindestzahlen zu ermitteln, während weitere Forschungen möglicherweise höhere Opferzahlen bestätigen können.
Die vorliegende Studie ist ein bedeutender Schritt zur Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus und zur Anerkennung der Opfer. Sie liefert belastbare Beweise für die Opfer von unethischen medizinischen Experimenten und erzwungener Forschung und ermöglicht es, ihre Geschichten in einen umfassenden historischen Kontext einzuordnen.
Abbildung 1: Beispiel für einen Versuchsopfer – Vater Leon Michałowski, geboren am 22. März 1909 in Wąbrzeźno, wurde im August 1942 mit Malaria infiziert und im Oktober 1942 Kälteexperimenten unterzogen.
Diese Studie ist nicht nur von historischem Interesse, sondern hat auch Auswirkungen auf die gegenwärtige Bioethik. Die Erkenntnisse aus dieser Forschung können dazu beitragen, ethische Richtlinien für medizinische Experimente und Forschung zu verbessern und sicherzustellen, dass solche Verbrechen sich nie wiederholen.
Es ist wichtig, dass wir diese dunkle Seite der Geschichte nicht vergessen und dass wir die Opfer in unserer Erinnerung bewahren. Das Gedenken an die Opfer ist ein Schritt auf dem Weg zur Versöhnung und zur Aufarbeitung der Vergangenheit. Indem wir ihre Geschichten erzählen und uns mit ihnen solidarisieren, können wir sicherstellen, dass die Gräueltaten des Nationalsozialismus nie in Vergessenheit geraten.