Online-Bewertungsportale für Ärzte erzeugen kontroverse Reaktionen. Plattformen wie Jameda, Sanego oder die Weiße Liste sollen den Patienten Orientierung bieten. Durch Noten oder Sterne können Nutzer sehen, wie andere Patienten die Ärzte bewerten und deren Kommentare lesen. Doch während manche dies als wichtige Informationsquelle betrachten, sehen andere das als falsches Signal. Martin Scherer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin, betont, dass die medizinische Versorgung keine Serviceleistung wie eine Autoreparatur ist. Die Qualität der Arzt-Patienten-Beziehung ist entscheidend für eine gute Therapieentscheidung. Studien zeigen, dass Patienten ihre Medikamente eher einnehmen und einen gesunden Lebensstil pflegen, wenn sie ihrem Arzt vertrauen.
Negative Bewertungen im Netz können schwerwiegende Folgen für den betroffenen Arzt und seine Praxis haben. “Wir stehen dann öffentlich am Pranger”, sagt Scherer. Kein Wunder, dass Agenturen wie Wecomblue Ärzten beibringen möchten, sich zu wehren. Die Zahnärztekammern Westfalen-Lippe und Hamburg haben ihre Mitglieder bereits vor Wecomblue gewarnt. Die Agentur selbst hat auf Anfragen der Süddeutschen Zeitung nicht reagiert.
Doch was diese Agenturen den Ärzten als “Notwehr” verkaufen, ist in Wahrheit ein perfides System, das die Bewertungen im Netz zu einer absurden Maskerade macht. Was ist, wenn Ärzte mit schlechten Noten positive Kommentare kaufen? Was ist, wenn die am meisten bewerteten Ärzte nicht besonders kompetent, sondern besonders gerissen sind?
Im Internet suchen wir längst nach Hotelbewertungen für den nächsten Urlaub, nach der Anzahl der Sterne für Restaurants oder nach Bewertungen von Bademützen. Eine Umfrage des Digitalverbands Bitkom im Dezember 2016 ergab, dass zwei Drittel der Online-Käufer Kundenbewertungen in Online-Shops als Entscheidungshilfe nutzen. Bei jungen Menschen im Alter von 14 bis 29 Jahren sind es sogar drei Viertel. “Anbieter gefälschter Bewertungen nehmen zu, je mehr die Benotungen im Internet zum Wettbewerb werden”, sagt Tatjana Halm, Rechtsanwältin und Referatsleiterin des Bereichs Markt und Recht bei der Verbraucherzentrale Bayern. Bei der Wahl einer Bademütze mag das nicht so wichtig sein, aber bei der Wahl eines Arztes schon.
Ärzte fühlen sich persönlich betroffen, wenn sie online schlechte Noten erhalten. Die Versuchung, positive Bewertungen zu kaufen, ist groß, sagt Dirk Paulukat, stellvertretender Landesvorsitzender des Berufsverbands der Augenärzte in Hessen. Er selbst erhielt am 2. März 2018 eine E-Mail von einer Agentur namens Bewertungs-Fabrik, die ihm anbot, drei positive Bewertungen für das Arztbewertungsportal Jameda und fünf positive Bewertungen für Google für insgesamt 149,90 Euro zu kaufen. Eine ähnliche Angebots-E-Mail ging auch an eine Kollegin des Augenarztes sowie an die Weißenhorner Stiftungsklinik bei Neu-Ulm. Eine weitere Agentur namens Bewertungs-Support schickte dem Augenarzt in diesem Jahr eine ähnliche E-Mail. Der Augenarzt gab aus Neugier eine Testbestellung für zehn positive Google-Bewertungen für 118,88 Euro auf, doch die Transaktion kam nicht mehr zustande. Der Bewertungs-Support hat seinen Betrieb eingestellt, und die Bewertungs-Fabrik ist unter der angegebenen Mobilnummer nicht mehr zu erreichen. Beide Unternehmen nannten VLIMC Limited auf Zypern als Betreiber. Laut Elke Ruppert, Pressesprecherin des Arztbewertungsportals Jameda, spielen die Anbieter “ein juristisches Katz-und-Maus-Spiel”, da sie ihren Namen und ihre exotischen Wohnorte häufig wechseln.
Vor kurzem hat ein Urteil des Landgerichts München die Portale Jameda und andere Plattformen aufhorchen lassen. Erfundene Bewertungen wurden erstmals für rechtswidrig erklärt. Das Hotelbewertungsportal Holidaycheck gewann einen Prozess gegen die Agentur Fivestar Marketing. Fivestar darf nun keine Bewertungen mehr von Menschen verkaufen, die nicht tatsächlich in dem jeweiligen Hotel oder Ferienhaus übernachtet haben. Außerdem muss Fivestar dafür sorgen, dass die gefälschten Bewertungen gelöscht werden und dem Urlaubsportal mitteilen, von wem die erfundenen Bewertungen stammen.
Die Anbieter käuflicher Bewertungen bewegen sich bislang in einer rechtlichen Grauzone. Medizinrechtler sind sich einig, dass sie gegen das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb verstoßen. Bewertungsportale wie Jameda und Holidaycheck fordern jedoch, diese Angebote als Betrug und somit als Straftat zu betrachten. “Sonst ist es rechtlich schwer, gegen die Anbieter vorzugehen”, sagt Georg Ziegler, verantwortlich für den Bereich Bewertungen bei HolidayCheck.
Bei Jameda überwachen 20 Mitarbeiter die Qualität der Bewertungen. Sie werden von Algorithmen unterstützt, die anhand von insgesamt 50 Kriterien nach Auffälligkeiten suchen. Zum Beispiel, ob Bewertungen in ganz Deutschland vom selben Computer abgesendet wurden, ob die E-Mail-Adressen verschiedener Kommentare identisch sind, ob es sprachliche Auffälligkeiten gibt oder ob IP-Adressen einen Verdacht nahelegen. “Oft ergeben sich in den Fake-Bewertungen von Agenturen Muster, die unser System identifiziert und daraufhin Alarm schlägt”, erklärt Jameda-Sprecherin Ruppert. Etwa zehn Prozent der bei Jameda eingehenden Bewertungen werden gelöscht, da sie den Qualitätsstandards nicht standhalten. Beim Konkurrenten Sanego sind es sogar zwölf bis 13 Prozent.
Das Bundesgerichtshof hat im Jahr 2011 entschieden, dass Bewertungsportale, wenn ein Arzt auf einen möglicherweise erfundenen Kommentar hinweist, dies überprüfen müssen. Die Portale müssen die Kritiker kontaktieren und um eine Stellungnahme bitten. In den meisten Fällen reagieren die Kritiker jedoch nicht auf die Rückfragen. In diesen Fällen muss die Plattform den Kommentar löschen. Deshalb empfiehlt Ulrich Franz, Fachanwalt für Gewerblichen Rechtsschutz in Berlin, betroffenen Medizinern, auffällige Bewertungen stets zu beanstanden.
Vor einem Jahr ging Jameda selbst gegen 18 Ärzte vor, die positive Bewertungen von Agenturen wie Goldstar, Fivestar und der Bewertungs-Fabrik gekauft hatten. Nach dem Gerichtsverfahren wurden die gekauften Kommentare entfernt, und die ertappten Ärzte mussten eine Unterlassungserklärung unterschreiben, dass sie künftig keinerlei Manipulationen ihrer Bewertungen mehr vornehmen.
Andere ehemalige Kunden der Bewertungs-Fabrik und des Bewertungs-Support könnten derzeit ebenfalls schlaflose Nächte haben. Der frühere Betreiber VLIMC Limited aus Zypern hat seine ehemaligen Kunden mit Zahlungsforderungen belästigt. Laut VLIMC befinden sich alle Kundendaten auf einem Server in der Türkei. “Das bedeutet, Ihre Adresse, Zahlungen an uns, der Link, der bewertet wurde, die Namen und der Text der Bewertungen”, erklärt ein Schreiben des Unternehmens. Um die Daten in der Türkei löschen zu lassen, müssen die Kunden 299 Euro überweisen. Kunden, die einst für positive Bewertungen bezahlt haben, werden erneut zur Kasse gebeten. Auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung änderte VLIMC jedoch seine Aussage und behauptete, dass “keine Daten mehr auf angemieteten Servern” vorhanden seien und alle Daten gelöscht wurden.