In den Schriften des Universalgelehrten und experimentellen Wissenschaftlers Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) finden sich überraschend moderne Beobachtungen zur Phänomenologie wissenschaftlicher Aktivität. Hierbei geht es unter anderem um die Beziehung zwischen Experiment und Hypothese, die Rolle des Zufalls bei wissenschaftlichen Entdeckungen sowie die dialektische Beziehung zwischen der Neuerfindung und der Anordnung des angehäuften Wissens. In seinen privaten Notizbüchern, den sogenannten Sudelbüchern, macht Lichtenberg eine interessante Bemerkung zur reinen Demonstrationsforschung.
Demonstrationsforschung und echte Experimente
Demonstrationsversuche waren im 18. Jahrhundert weit verbreitet. Sie dienten nicht nur didaktischen Zwecken, sondern wurden auch genutzt, um das damals neue und mysteriöse Gebiet der Elektrizität spektakulär zu inszenieren. Lichtenbergs Definition einer reinen Demonstrationsforschung unterscheidet jedoch implizit zwischen einem Demonstrationsversuch und einem echten Experiment. Bei ersterem werden bekannte Phänomene lediglich bestätigt und präsentiert, während bei letzterem etwas Neues, noch Unerforschtes ans Licht kommt. Dieser dialektische Prozess zwischen Erwartbarkeit und Überraschung, der typisch für wissenschaftliche Aktivität ist, fesselte sowohl Ludwik Fleck im 20. Jahrhundert als auch Hans-Jörg Rheinberger, der das Konzept der “epistemischen Dinge” und “technischen Objekte” entwickelte.
Epistemische Dinge und technische Objekte
Rheinberger definiert in seinem bahnbrechenden Buch “Zur Geschichte epistemischer Dinge” (1997) experimentelle Systeme als “die kleinsten integralen Funktionseinheiten der Forschung”, die “unbekannte Antworten auf Fragen geben, die die Experimentatoren selbst noch nicht klar stellen können”. Diese experimentellen Systeme bestehen aus zwei Elementen: den epistemischen Dingen und den technischen Objekten. Das Forschungsobjekt wird als epistemisches Ding definiert, das “materielle Entitäten oder Prozesse – physikalische Strukturen, chemische Reaktionen, biologische Funktionen – umfasst, die Gegenstand der Untersuchung sind”. Diese Objekte “präsentieren sich in einer charakteristischen, unverkennbaren Unschärfe”, die unerlässlich ist, denn “paradoxerweise verkörpern epistemische Dinge das, was man noch nicht weiß”. Technische Objekte hingegen sind als die materiellen, technischen Einrichtungen zu verstehen, die die Produktion epistemischer Dinge überhaupt erst ermöglichen.
Epistemische Dinge in Lichtenbergs Sudelbüchern
Lichtenbergs Sudelbücher sind der Ort des zufälligen Zusammentreffens zweier Praktiken, die sowohl für den Naturwissenschaftler als auch für den Schriftsteller zentral sind: das Festhalten gesammelter Daten (Beobachtungen, Versuchsprotokolle, Berechnungen usw.) und das Experimentieren, um das neue und begehrte, aber noch undefinierte Forschungsobjekt (das epistemische Ding) aus einer gegebenen und mehr oder weniger festen Ausgangssituation (dem technischen Objekt) hervorzubringen. Diese Texte setzen einen eigenartigen Dialog zwischen Wiederholung und Erneuerung in Gang. Einerseits werden traditionelle Verfahren der Klassifikation und Repräsentation bereits bekannter Informationen verwendet. Andererseits versucht Lichtenberg aus den archivierten schriftlichen Materialien und den funkelnden Assoziationen, die daraus entstehen, neue Ideen und eigentümliche Gedankenexperimente zu generieren. Rhetorische “Inventio” wird zu wissenschaftlicher Erfindung.
Epistemische Dinge und Lichtenbergs Interesse an Elektrizität
Lichtenberg war als Wissenschaftler hauptsächlich am Paradigma der Epoche interessiert – der Elektrizität. In der Geschichte der Wissenschaft ist sein Name mit der Entdeckung der nach ihm benannten elektrischen Figuren verbunden, die sich aus verzweigten elektrischen Entladungen zusammensetzen und manchmal auf der Oberfläche oder im Inneren von isolierenden Materialien auftreten. Seine Schrift “Von einer neuen Art, die Natur und Bewegung der elektrischen Materie zu erforschen” (1778), mit der er die wissenschaftliche Gemeinschaft über seine Entdeckung informierte, ist aus historiografischer und rhetorischer Sicht interessant. Darin erkennt Lichtenberg die Rolle des Zufalls im Entdeckungsprozess an und reflektiert mehrmals darüber. Die unsichtbaren epistemischen Dinge namens Elektrizität erzeugen Effekte, die auch ästhetisch ansprechend sind. Deren besondere Schönheit, die Lichtenberg mit Begeisterung beschreibt, scheint sogar das notwendige Äquivalent zu ihrer definitorischen Unschärfe zu sein. In diesem Text verwendet Lichtenberg mehrere narrative Verfahren, die ihn zu einem perfekten Beispiel für die erzählerische Wissenschaftsnarration des 18. Jahrhunderts machen.
Lichtenbergs Sudelbücher als Forschungsstätte
Die Sudelbücher sind keine Tagebücher, da sie meist nicht datiert sind. Lichtenberg vertraute ihnen allerlei Gedanken an: experimentelle Protokolle, flüchtige Beobachtungen, Berechnungen, lustige Ideen und sprachliche Wortspiele, Zitate aus anderen Büchern mit eigenen Kommentaren, Entwürfe für kurze Aufsätze zur Veröffentlichung in Zeitschriften und mehr. Das thematische Spektrum ist sehr unterschiedlich und beschränkt sich keineswegs auf Fragen der experimentellen Wissenschaft oder der Labor-Technologie, sondern erstreckt sich auf anthropologisch-psychologische, literaturkritische und politische Themen. Die Sudelbücher dienen Lichtenberg als Forschungsnotizbücher im weitesten Sinne.
Die Sudelbücher als Werkstatt der Wissenschaft
Rheinberger prägte den Begriff “Zettelwirtschaft” für diese Notizbücher, weil sie den Ausdruck einer sich entwickelnden Wissenschaft darstellen. Sie verkörpern die “rohen Notizen, Entwürfe und Überarbeitungen, die Einblick in konkrete Wissensbildungsprozesse bieten” und daher “noch im Bereich des experimentellen Engagements und der Verflechtung” liegen. Unter den zahlreichen Werkzeugen des Wissens, die moderne Forschungspraktiken begleiten (Laborwerkzeuge, experimentelle Anordnungen, Bibliotheken, Archive usw.), nimmt der Schreibtisch als eine Art Forschungslabor im weitesten Sinne ebenfalls einen wichtigen Platz ein. Als Ausdruck einer sich entwickelnden Wissenschaft erweisen sich kleine und unvollständige Textformate wie Notizen und Zettel als das ideale Medium zur Erzeugung neuer epistemischer Dinge, deren wesentliches Merkmal eine vorläufige Unschärfe ist.
Die Entstehung von epistemischen Dingen in Lichtenbergs Sudelbüchern
Die Sudelbücher von Lichtenberg dienen nicht nur als wissenschaftliche, sondern auch als erkenntnistheoretische Fragegeneratoren. Sie sind der ideale Ort für Gedankenexperimente, für geistreiche Assoziationen und für die Erweiterung auf andere Wissensgebiete – auf andere experimentelle Systeme. Die hier entstehenden neuen epistemischen Dinge erscheinen als “vage Ahnungen”. Da sie diesen privaten Notizbüchern anvertraut werden, sind sie automatisch keine kalten Forschungsobjekte, sondern hochpersönliche, warme Angelegenheiten von großer Bedeutung.