John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit wurde 1971 veröffentlicht und traf in einer Zeit auf eine Welt, die sowohl von kommunistischen Utopien als auch von rechtsstaatlichen Werten geprägt war. Die politische Landschaft war von polarisierenden Diskussionen geprägt, bei denen Rawls mit seiner Theorie in das Vakuum der Auseinandersetzung trat.
Die Utopien des 20. Jahrhunderts
In den 70er Jahren stand der Kommunismus als realistische Alternative zur westlichen Welt im Raum. Die 68er-Bewegung sah sich als Vorreiter des Sozialismus, während die westlichen Demokratien mit verfassungsrechtlich fragwürdigen Methoden gegen linksradikale Strömungen vorgingen. Gleichzeitig debattierten viele über einen dritten Weg, einen Sozialismus mit marktwirtschaftlichem Vorzeichen. Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit trat in diesem Kontext auf und rehabilitierte in gewisser Weise den Liberalismus, indem sie dem Individuum die Fähigkeit zusprach, moralische und rechtliche Grundsätze selbst zu bestimmen. Die Rechte des Einzelnen standen für Rawls über dem Gemeinwohl.
Die Entstehung der Theorie
Ein Schlüsselerlebnis für Rawls war der Verlust seiner beiden Brüder, die an Krankheiten starben, von denen er selbst verschont blieb. Diese Erfahrung machte ihm klar, dass viele Privilegien auf Zufall, nicht auf Verdienst beruhen. Für ihn war es selbstverständlich, dass diese Privilegien geteilt werden sollten. Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit wurde zu seinem Hauptwerk, während seine anderen Schriften darauf hindeuteten oder es ergänzten. Seine Auseinandersetzung mit Lebensplantheorien, insbesondere der aristotelischen, spielte eine entscheidende Rolle für seine Gerechtigkeitstheorie. Rawls passte seine Reflexionen an die Bedingungen moderner individueller Lebensentwürfe an und setzte seinen ganz persönlichen Lebensplan um: die Abfassung einer Theorie der Gerechtigkeit. Die Motivation für dieses Projekt bezog er unter anderem aus der christlichen Lehre, die von der Gleichheit aller Menschen ausgeht und die Teilhabe jedes Einzelnen an der Verwirklichung des göttlichen Schöpfungsplans fordert.
Die Wirkungsgeschichte
Die Veröffentlichung der Theorie der Gerechtigkeit wurde von den Medien als Jahrhundertereignis bezeichnet. Rawls galt bereits damals als einer der wichtigsten Philosophen Amerikas und der Welt. Mittlerweile sind über 5000 wissenschaftliche Studien zu seiner Gerechtigkeitstheorie erschienen. Das Werk wurde in 23 Sprachen übersetzt und allein in den USA 200.000 Mal verkauft. Obwohl die Rhetorik der Theorie akademisch war, hatte sie schnell politische Auswirkungen. Rawls’ erste Gegner meldeten sich Ende der 70er Jahre zu Wort und machten ihn für vermeintliche Fehlentwicklungen verantwortlich, die im Zuge der 68er-Bewegung aufgetreten seien.
In Deutschland wurde Rawls auch von konservativen Wirtschaftsliberalen angegriffen und als “Philosoph des Sozialneids” bezeichnet. Die Kommunitaristen um Michael Walzer und Michael Sandel lehnten Rawls ebenfalls ab. Sie waren der Meinung, dass das Individuum nicht befugt ist, Normen für das Zusammenleben in der Gemeinschaft aufzustellen. Für sie sollte die Gemeinschaft die Normen für den Einzelnen festlegen. Rawls verteidigte seine Theorie 30 Jahre lang gegen Kritik, nahm Einwände auf und erweiterte den Geltungsbereich seiner Schrift auf das Völkerrecht und eine global gerechte Gesellschaft.
Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit hat zweifellos eine Revolution in der Gesellschaftspolitik ausgelöst. Ihr Einfluss ist bis heute spürbar und sie bleibt eine Grundlage für Diskussionen über Gerechtigkeit und Fairness.