Eine braune Pfütze breitet sich in einem dunklen Zelt aus. Auf dem Boden liegen abgenutzte Schuhe, Isomatten. Alles steht unter Wasser. Burcu Özkaya Günaydın erlebte die Erdbebenkatastrophe im Februar in der Türkei selbst mit. Seitdem teilt sie als freie Journalistin immer wieder Videos der zerstörten Stadt Hatay in den sozialen Medien. In einem anderen Video ist ein Bagger vor Trümmerhaufen zu sehen; alles ist grau, unübersichtlich. Ein Anblick von Chaos. Darunter, schreibt Günaydın, werden noch immer tote Menschen vermutet.
Die anhaltende Not der Erdbebenüberlebenden
Normalität ist auch über zwei Monate nach der verheerenden Erdbebenkatastrophe in der Türkei und in Syrien in weite Ferne gerückt. Anfang Februar kosteten Erdbeben mit Stärken von über 7 mehr als 50.000 Menschen das Leben. In der Türkei wurde die Katastrophe zum Politikum, Regierungskritiker:innen warfen dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan Baupfusch vor. Im kriegsgebeutelten Syrien verschärfte sich die humanitäre Krise, internationale Hilfe kam erst spät an. Hat sich die Situation verbessert?
Traumatisierte Menschen ohne Obdach
„Die Menschen sind traumatisiert“, sagt Ahmet Basoglu, der seinen echten Namen wegen Sicherheitsbedenken nicht in der Zeitung lesen will, dem Tagesspiegel. Als freiwilliger Helfer ist er vor zwei Wochen aus Pazarcık, einer alevitisch-kurdischen Gemeinde im Epizentrum des Erdbebens, zurück nach Deutschland gekommen. „Wenn Kinder zum Kiosk laufen, rufen sie sich den ganzen Weg über ‚Weg von den Häusern! Nicht in die Nähe der Häuser!´ zu.“ Nur wenige Gebäude in Pazarcık haben das Erdbeben unbeschadet überstanden. Doch niemand traue sich da rein, sagt Basoglu. Noch immer ist die Angst vor Nachbeben groß. Ein Beben der Stärke 5 erlebte er selbst, die Menschen „verließen sofort ihre Zelte und stürmten nach draußen, weil sie in Panik gerieten“. Die meisten Menschen, die er getroffen hat, seien noch immer obdachlos.
Wie lange sollen wir noch in den Zelten leben?
- Gonca Tunç aus Hatay überlebte die schweren Erdbeben
Ahmet Basoglu ist einer von unzähligen freiwilligen Helfer:innen, die in den vergangenen Wochen und Monaten ins Erdbebengebiet gereist sind. Doch viele Betroffene müssen sich noch immer selbst helfen, neue Wohnungen suchen, Beerdigungen organisieren.
Neue Wohnung unerschwinglich, Hoffnung schwindet
Das Beben habe ihr „alles genommen“, sagt Gonca Tunç. Sie kommt aus Hatay, fast 200 Kilometer südlich von Pazarcık. Ihren Neffen, seine Frau und deren Kinder habe sie bei den Beben verloren, insgesamt sind 22 Familienmitglieder gestorben. „Wir haben sie ohne Leichentücher begraben müssen“, sagt sie am Telefon. Dabei ist gerade das bei islamischen Beerdigungen ein wichtiges Ritual. Wie viele andere lebt die 63-Jährige mit ihrem Mann in einem Zelt.
„Eine neue Wohnung können wir uns nicht leisten“, sagt Tunç. Staatliche Hilfe gebe es auch keine: „Wie lange sollen wir noch in den Zelten leben?“ Es gibt Momente, da weine sie einfach nur. Die „Hölle während des Erdbebens“ erlebt sie immer wieder neu, hat Albträume, Angst, dass es für immer so bleibt. „So möchte ich nicht bis an mein Lebensende leben.“
Die Last der syrischen Geflüchteten
Die Nöte Überlebender wie Gonca Tunç kennt Marcus Bachmann gut. Er ist als humanitärer Berater für Ärzte ohne Grenzen in der Türkei. In den Zeltstädten sei besonders die Hygienesituation für die Menschen eine große Herausforderung. Bestimmte Personengruppen habe es zudem härter getroffen. Geflüchtete in der Türkei lebten „schon vor den Erdbeben abgelegener und weniger gut versorgt“, sagt Bachmann. Von den über 3,6 Millionen anerkannten syrischen Geflüchteten in der Türkei sind 1,7 Millionen direkt von den Erdbeben betroffen.
Eine anhaltende Krise ohne Ende
Es fehle noch immer an allem, erzählt Erbil E., die in Afrîn lebt. Weder Geld oder Zelte, nicht einmal mehr Grundnahrungsmittel gebe es. „Nachts haben wir keinen Strom“, erzählt sie. „Weil meine Kinder Angst haben, lasse ich für sie die Taschenlampe bis in den Morgen hinein an.“ Ihre Kinder gehen für zwei Stunden in die Schule, für mehr seien die Gebäude nicht sicher genug. Das Gefühl von Angst und Hilflosigkeit ist immer da. In Afrin, in Syrien, in der Türkei. Die größeren Erdbeben sind zwar vorbei, die Schäden und der Schock noch lange nicht.