Erdbebenerschütterte Region in der Türkei: Von Trauer zu Wut

Erdbebenerschütterte Region in der Türkei: Von Trauer zu Wut

Erdbeben in der Türkei

Vor einem Monat wurde der Südosten der Türkei von schweren Erdbeben erschüttert. Seitdem hat die Regierung Erdogan viel Kritik einstecken müssen. Betroffene machen sie für die Trümmer mitverantwortlich.

Es war 4.17 Uhr am frühen Morgen, als das erste Beben der Stärke 7,8 den Südosten der Türkei und Nordsyrien erschütterte. Die meisten Menschen wurden im Schlaf überrascht, ihre Betten wurden zu Gräbern. Andere überlebten in den Trümmern – zumindest vorerst. Ein Beispiel sind Reiseführer in einem Hotel in Adiyaman im zentralanatolischen Gebiet, die durch Sprachnachrichten auf sich aufmerksam gemacht haben.

Sie konnten gerettet werden, starben jedoch auf dem Weg ins Krankenhaus. Allein in der Türkei haben mehr als 45.000 Menschen bei dem Erdbeben ihr Leben verloren. Die Zahl der Vermissten, die möglicherweise noch unter den Trümmern begraben sind, ist noch unbekannt.

Vielen Menschen hätten noch am Leben sein können, wenn der Staat schneller reagiert hätte, beklagt Tülay Oruc, eine Abgeordnete der oppositionellen HDP im türkischen Parlament. Sie sagt: “Ich war kurz nach dem ersten Erdbeben vor Ort. An manchen Orten war der Staat auch nach zwei oder sogar drei Tagen nicht präsent. Er war nicht da! Keiner von euch war da!”

Die Regierung verteidigt sich mit dem Schneesturm, der die Abreise der Rettungsteams aus Istanbul und Ankara stundenlang verzögert hat, sowie mit dem Ausmaß der Katastrophe, die elf Provinzen und eine Fläche so groß wie Bayern und Baden-Württemberg betroffen hat. Doch diese Argumente machen die Betroffenen eher noch wütender.

Der sonst allgegenwärtige Präsident Recep Tayyip Erdogan war erstaunlich lange unsichtbar. Erst Tage später reiste er in die am schwersten betroffenen Gebiete und sprach vom Schicksal einer Jahrhundertkatastrophe. Er bat um Vergebung für die schleppend angelaufenen Rettungsarbeiten und gestand ein: “Leider ist es uns in den ersten Tagen nicht gelungen, so aktiv zu sein, wie wir es uns gewünscht hätten. Wie jeder Sterbliche haben auch wir Fehler gemacht und Unzulänglichkeiten gezeigt. Dafür bitte ich um Vergebung.”

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Die Betroffenen sind jedoch nicht nur wegen der staatlich tolerierten Baupfuschs wütend. Die Regierung macht vor allem Bauunternehmer und Lokalpolitiker für das Desaster verantwortlich und hat mehr als 230 Verdächtige festgenommen.

Viele der Betroffenen sind mit diesen Maßnahmen jedoch nicht zufrieden. Fast jeder hat Angehörige verloren. Etwa zwei Millionen Menschen sind obdachlos und leben jetzt in Zelten oder Containern. Nicht für alle gibt es genügend Wasser und Toiletten. Etwa drei Millionen Menschen haben die Region mittlerweile verlassen.

Die Trauer weicht immer mehr der Wut auf die Regierung. Die Regierung hat Schwierigkeiten, damit umzugehen, wie die Reaktion von Erdogans Koalitionspartner Devlet Bahceli von der rechtsextremen MHP bei Protesten in der fast völlig zerstörten Stadt Elbistan zeigt. Er sagte: “Niemand hat das Recht, die Bemühungen des Präsidenten zu sabotieren. Seid ruhig! Ihr alle dort, nehmt die Banner herunter! Los jetzt!”

Die Betroffenen machen die Regierung auch dafür verantwortlich, dass trotz strenger Baugesetze Wohnhäuser wie Kartenhäuser eingestürzt sind. Sie werfen der Regierung Korruption und Vetternwirtschaft mit tödlichen Folgen vor. Müzeyyen Sevkin, eine Abgeordnete der CHP aus Adana, beschwert sich: “In unserem Land gibt es 24 Städte, die direkt auf Verwerfungslinien stehen. Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass diese Siedlungsgebiete verlegt werden und der Wohnungsbau entlang der Verwerfungslinien verboten werden sollten.” Doch die Regierungsparteien haben das abgelehnt.

Es wird gefordert, dass Erdogan und seine AKP zur Rechenschaft gezogen werden. Ob dies geschieht, wird sich am 14. Mai zeigen, wenn Wahlen anstehen. Bei einer Umfrage gaben 15 Prozent der Befragten an, dass das Erdbeben ihre Wahlentscheidung beeinflussen werde. Damit steht auch Erdogans Zukunft als Präsident auf unsicherem Boden.

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Die Sorge vor einem schweren Erdbeben in Istanbul, das rund 1000 Kilometer von der Erdbebenregion im Südosten entfernt liegt, ist bereits spürbar. Experten warnen seit Jahren vor einem solchen Beben in der dicht besiedelten Metropole mit 16 Millionen Einwohnern. Auch dort ist die Bausubstanz oft marode. Mehrere Hunderttausend Häuser müssten wahrscheinlich abgerissen und neu gebaut werden.

Der Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, will das nun in Angriff nehmen. Er sagt: “Wenn wir diese altehrwürdige Stadt erhalten wollen, müssen wir kurz-, mittel- und langfristig unbedingt erdbebensichere Wohngebiete schaffen.” Er ist überzeugt, dass dies möglich ist, da die Stadt über das erforderliche Know-how, die Manpower und die finanziellen Mittel verfügt.

Dennoch wird es ein unvorstellbarer Kraftakt sein, gegen einen Gegner anzukämpfen, von dem man nicht weiß, wann er zuschlagen wird. Vielleicht erst in ein paar Jahrzehnten, vielleicht schon morgen.