Erstarren im Schweigen

Erstarren im Schweigen

Der “Selektive Mutismus” ist eine wenig bekannte, aber nicht seltene Sprachstörung. Geschätzt sind in Deutschland zwischen 6.000 und 10.000 Kinder betroffen, wobei Mädchen häufiger betroffen sind als Jungen.

Eine unbekannte Sprachstörung

Ein Kindergartenstart kann für betroffene Kinder zu einem Fiasko werden. Sophie spricht nicht, egal wie freundlich die Erzieherin ist und wie sehr sie versucht, Kontakt aufzunehmen. Die Eltern beruhigen sich damit, dass sie nur ein wenig schüchtern und noch fremd sei. Doch auch nach Wochen bessert sich die Situation nicht. Sophie spricht kein Wort, weder mit der Erzieherin noch mit den meisten anderen Kindern. Nur mit einigen wenigen Kindern unterhält sie sich mit gedämpfter Stimme. Das Verhalten lässt sich nicht allein mit Schüchternheit, Introvertiertheit oder Sturheit erklären. In dieser Situation kann die Dreijährige einfach nicht sprechen, sie empfindet sie als so bedrohlich, dass sie wie gelähmt ist und ihr ganzer Körper zu erstarren scheint.

Sophie leidet unter “Selektivem Mutismus”. “mutus” bedeutet stumm und “selektiv” bezieht sich darauf, dass das Problem nur in bestimmten Situationen auftritt. Es handelt sich um eine Sprachstörung, die den meisten Menschen zwar unbekannt ist, aber gar nicht so selten vorkommt. In Deutschland sind zwischen 6.000 und 10.000 Kinder betroffen, wobei mehr Mädchen als Jungen betroffen sind. Wenn die Störung unbehandelt bleibt, können sich im Jugend- und Erwachsenenalter zusätzlich zur Störung Sozialphobie, Depressionen und Zwänge entwickeln, warnt die Mutismus Selbsthilfe Deutschland.

Eine hohe Dunkelziffer

Experten gehen davon aus, dass die Dunkelziffer weit höher ist als die bekannten Fälle, da selbst Mediziner die Störung oft nicht als behandlungsbedürftig ansehen, erklärt Michaela Roth, eine Sprachtherapeutin aus Offenbach, die selbst mehrere Kinder mit Selektivem Mutismus behandelt. Oft wird die Störung auch mit Autismus verwechselt, obwohl es entscheidende Unterschiede zwischen den beiden gibt, erklärt Psychologe Joachim Kutscher von der Leibniz Universität Hannover in einem Fachbeitrag für den Verein “StillLeben”, der sich mit dem Thema beschäftigt.

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Autismus ist eine tiefgreifende Störung auf der Wahrnehmungsebene, während Mutismus eine Störung auf der Ebene der sozial-emotionalen Kommunikation ist. Anders als Autisten können Menschen mit Mutismus Emotionen zeigen und enge Beziehungen eingehen. “Oft haben diese Mädchen und Jungen sogar ein sehr enges Verhältnis zu ihren Eltern”, erklärt Michaela Roth. Das Problem dieser Kinder besteht darin, dass sie ungewohnte Situationen wie Kindergarten, Schule, Besuche bei anderen Menschen oder den Einkauf im Supermarkt als extrem beängstigend erleben und deshalb dort niemals sprechen, auch nicht nach einer längeren Eingewöhnungszeit.

Es handelt sich nicht um eine bewusste und freiwillige Entscheidung, erklärt die Sprachtherapeutin. Vielmehr wird die Sprechangst durch die jeweilige Situation bestimmt und kann so stark werden, dass sie zu einer Art Erstarrung führt. In vertrauter Umgebung und mit nahestehenden Personen sprechen mutistische Kinder jedoch ganz normal, sie können sogar richtige “Quasselstrippen” sein. Der Verein “StillLeben” führt auf seiner Website als Grund dafür einen “Nachholbedarf” an.

Zwar wurde die Störung bereits 1780 erstmals beschrieben, aber die genauen Ursachen sind bis heute nicht geklärt. Es wird vermutet, dass eine genetische Veranlagung zur sozialen Ängstlichkeit eine Rolle spielt. In den meisten Fällen ist ein Elternteil ebenfalls sehr schüchtern oder hatte in der Kindheit ähnliche Probleme, erklärt Sprachtherapeutin Roth. Aber auch Umweltfaktoren können eine Rolle spielen. Zum Beispiel sind überdurchschnittlich viele Kinder aus Migrantenfamilien betroffen, was mit der Annahme übereinstimmt, dass eine zweisprachige Erziehung ein Risikofaktor sein kann.

Mutisten sind sehr feinfühlig, normal intelligent und viele sogar hochbegabt. In der Schule können sie die mangelnde mündliche Beteiligung oft mit guten schriftlichen Leistungen ausgleichen. Insgesamt neigen Mutisten zu vorsichtigem Verhalten, und auch ihre gesamte Motorik kann davon betroffen sein.

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Frühzeitige Diagnose wichtig

Es ist wichtig, die Störung frühzeitig zu erkennen und schnell zu behandeln, erklärt die Therapeutin, “damit die schwerwiegenden psychosozialen Konsequenzen das Kind nicht in eine soziale Isolation zwingen”. Spätestens im Jugendalter kann sich die Rolle des Außenseiters manifestiert haben und es können sich schwere Probleme in der Schule und später im Beruf entwickeln.

Früher kümmerten sich vor allem Psychotherapeuten oder Psychiater um betroffene Kinder. Seit 20 Jahren spielt jedoch auch die Sprachtherapie eine immer wichtigere Rolle. Das Ziel ist es, die Angst vor dem Sprechen in kleinen Schritten zu überwinden. Dabei ist eine behutsame Kontaktaufnahme entscheidend und der Verzicht auf laute Geräusche. Es hat sich auch häufig als hilfreich erwiesen, die Kommunikation zunächst über Handpuppen zu führen, berichtet Michaela Roth aus eigener Erfahrung.

Gemäß den “Stuttgarter Rahmenempfehlungen zur Mutismus-Therapie” müssen auch die Eltern in die Therapie einbezogen werden. Denn sie können ungewollt die Sprachstörung aufrechterhalten, indem sie – gut gemeint – die Rolle des Sprachrohrs übernehmen oder Druck ausüben. Eine enge Zusammenarbeit mit dem “institutionellen Umfeld” der Betroffenen, wie dem Personal von Kindergärten oder Schulen, ist ebenfalls notwendig.

Eine frühzeitige Erkennung und Therapie kann dazu beitragen, die Probleme oft gut in den Griff zu bekommen, sagt Michaela Roth, auch wenn es dauern kann und viele Betroffene wahrscheinlich keine Plaudertaschen mehr werden. Eltern können darauf vertrauen, dass es trotz aller Barrieren einen angeborenen Wunsch nach Kommunikation gibt.

Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie unter www.mutismus.de oder www.selektiver-mutismus.de.