Gibt es einen typischen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen? Diese Frage hat in der Wissenschaft zu heftigen Diskussionen geführt. Eine neue Studie mit 10.000 Gehirnscans kommt zu dem Ergebnis: Ja, es gibt Unterschiede. Allerdings liegen diese nicht an den Hormonen oder am Körperbau, sondern an der jeweiligen sozialen Prägung von Männern und Frauen.
Unser Gehirn ist in erster Linie deshalb so groß, weil wir in komplexen sozialen Strukturen leben. Das besagt zumindest die “Social-brain-hypothesis” des britischen Anthropologen Robin Dunbar. Bei vielen Primaten, einschließlich des Menschen, besteht ein Zusammenhang zwischen der Größe des Gehirns und der Gruppengröße. In größeren Verbänden sind auch die kommunikativen Fähigkeiten, wie zum Beispiel die Fähigkeit, die Handlungen anderer vorherzusagen, stärker ausgeprägt.
Forscher der Universität Aachen, unter der Leitung von Hannah Kiesow, haben Hinweise darauf gefunden, dass das “soziale Gehirn” von Männern und Frauen unterschiedlich geprägt ist. Dies liegt vermutlich an den unterschiedlichen Rollen, die Männer und Frauen in der Gemeinschaft einnehmen. Bei den meisten Affenarten kümmern sich beispielsweise die Weibchen um den Nachwuchs und pflegen häufiger soziale Kontakte. Bei Männchen stehen hingegen oft Machtverhältnisse und Dominanz im Vordergrund.
Die Studie, die in “Science Advances” veröffentlicht wurde, untersuchte den Zusammenhang zwischen Sozialleben und Gehirnstrukturen anhand von Daten und Gehirnscans von mehr als 10.000 Personen. Es wurde untersucht, ob es Unterschiede zwischen Männern und Frauen in Bezug auf den Aufbau und die Größe von 36 Gehirnregionen gibt. Die Ergebnisse von fast 4.000 Einzelstudien wurden dabei berücksichtigt. Die sozialen Daten umfassten Informationen darüber, ob die Menschen in größeren Familienverbänden oder allein leben, ob sie einen Beruf mit vielen sozialen Kontakten haben, ob sie viele Freunde haben, in Vereinen engagiert sind und wie zufrieden sie mit all diesen Beziehungen sind.
Die Auswertung der Daten bestätigte, dass das Gehirnvolumen in einigen Regionen größer ist, wenn das Individuum in einem reichhaltigen sozialen Umfeld lebt. Je häufiger, vielfältiger und intensiver die Kontakte waren, desto stärker war dieser Effekt. Es gibt jedoch auch geschlechtsspezifische Unterschiede. So ist zum Beispiel bei Frauen die Amygdala, eine Gehirnregion, die für das Gefühlsleben von großer Bedeutung ist, im Verhältnis zu Männern größer, wenn sie in einem Haushalt mit vielen Personen leben oder viele enge soziale Kontakte haben. Bei geselligen oder einsamen Frauen gibt es auch stärkere Veränderungen in einem Bereich des Frontallappens, in dem Kontrollmechanismen, abstraktes und rationales Denken verankert sind. Die Autoren der Studie vermuten, dass Frauen möglicherweise mehr über ihre Situation nachdenken als Männer.
Auch die Zufriedenheit mit und das Vertrauen in Freundschaften haben bei Frauen größere Auswirkungen, sowohl in emotionaler als auch in rationaler Hinsicht.
Bei Männern hingegen spiegeln sich soziale Erfahrungen stärker in neuronalen Belohnungszentren wider, insbesondere bei Männern mit niedrigem Einkommen. Das bedeutet, dass gute soziale Kontakte bei ihnen eher Gefühle der Belohnung oder Anerkennung hervorrufen.
Bei Frauen, die in ein gut eingebettetes soziales Umfeld eingebunden sind, gab es hingegen mehr Veränderungen in Gehirnregionen, die mit der Wahrnehmung auf unterer Ebene, wie zum Beispiel Hören oder Sehen, in Verbindung stehen. Bei Männern wurde dieser Zusammenhang nicht festgestellt, was erklären könnte, warum Frauen oft besser in der Lage sind, Gesichter zu lesen.
Natürlich handelt es sich bei diesen Unterschieden zwischen den Geschlechtern um graduale Unterschiede. Auch die Debatte darüber, ob diese Unterschiede auf Natur oder Umwelt zurückzuführen sind, kann auf der Grundlage der Studienergebnisse nicht abschließend beantwortet werden. Vermutlich handelt es sich um ein komplexes Zusammenspiel von beidem. Die Forscher sind jedoch der Meinung, dass der tägliche soziale Austausch mit Familie, Freunden und Kollegen sich unterschiedlich auf Männer und Frauen auswirkt. Dies ist ein Ausdruck dafür, dass der Mensch geschlechtsspezifische Strategien entwickelt hat, um die soziale Welt zu bewältigen.