Gedenken an Opfer der NS-Zeit: “Beschämend lange gedauert”

Gedenken an Opfer der NS-Zeit: “Beschämend lange gedauert”

Der Bundestag ehrt heute die Opfer des Nationalsozialismus. Zum ersten Mal stehen dabei sexuelle Minderheiten im Mittelpunkt, die auch lange nach dem Kriegsende verfolgt wurden.

Seit 1996 ist der 27. Januar der Tag, an dem Deutschland der Holocaust-Opfer gedenkt. Im Bundestag wird auch in diesem Jahr eine Gedenkfeier abgehalten – mit besonderem Augenmerk auf sexuelle Minderheiten, die vom NS-Regime verfolgt wurden.

Eine Premiere: 78 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und 27 Jahre nach der Einführung des Holocaust-Gedenktags in Deutschland widmet sich der Bundestag erstmals in einer Feierstunde den sexuellen Minderheiten.

Nicht beim ersten Versuch: Bereits 2018 forderte eine Petition den Bundestag dazu auf. Doch das damalige Bundestagspräsidium unter Wolfgang Schäuble (CDU) ließ sich nicht überzeugen. Erst seine Nachfolgerin Bärbel Bas (SPD) setzte sich dafür ein. Sie betont im Vorfeld, dass es ihr ein Anliegen ist, dieser Opfergruppe zu gedenken – auch weil sie bis heute Diskriminierung und Anfeindungen ausgesetzt ist.

“Mehr als überfällig”

Sven Lehmann, der erste Queerbeauftragte der Bundesregierung, findet es mehr als überfällig, dass der Bundestag sich auch denjenigen widmet, die als Angehörige sexueller Minderheiten verfolgt wurden. Er betont, dass die Betroffenen “einfach, weil sie geliebt haben, wie sie geliebt haben”, auch nach dem Ende des Nationalsozialismus noch verfolgt und entrechtet wurden.

Von wegen Stunde Null

Der Paragraf 175 blieb lange nach Kriegsende in der von den Nazis verschärften Form bestehen. In Frankfurt gab es in den 1950er-Jahren eine Reihe von Homosexuellen-Prozessen, 1957 bestätigte das Bundesverfassungsgericht den Paragrafen. Die Opfer standen in einigen Fällen wieder den gleichen Richtern gegenüber, die bereits in der Nazizeit über sie geurteilt hatten.

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In der DDR war es etwas anders, teilweise etwas besser, aber nicht gut. Auch die lesbischen Frauen, die von den Nazis verfolgt wurden, blieben in ganz Deutschland an den Rand gedrängt. Der Historiker Martin Lücke erklärt: “Für die Angehörigen sexueller Minderheiten gibt es in Deutschland 1945 keine Stunde null.”

“Totgeschlagen Totgeschwiegen”

Die Betroffenen blieben in dem feindlichen gesellschaftlichen Klima stumm. Geschichtsprofessor Lücke erklärt, dass es zu dieser Zeit ohnehin schwer war, über Sexualität zu sprechen. Umso mehr, wenn die Betroffenen wegen ihrer Sexualität verfolgt wurden.

Auch die Geschichtsforschung entdeckte das Thema erst spät, sodass Zeitzeugen sich nur schwer auf Ergebnisse der Forschung berufen konnten. Das Tabu wirkte lange Zeit. Auf einem Gedenkstein für die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus am Berliner Nollendorfplatz steht: “Totgeschlagen Totgeschwiegen”. Die Präsidentin des Deutschen Bundestages hat erst am Mittwoch dort einen Kranz niedergelegt.

Keine Zeitzeugen aus der NS-Zeit mehr

Für die zentrale Gedenkrede der Opfergruppe hat der Bundestag niemanden mehr gefunden. Die Überlebenden der Verfolgung sexueller Minderheiten in der NS-Zeit sind inzwischen verstorben. Stattdessen wird Klaus Schirdewahn aus Mannheim eine Rede halten. Er wurde in der Bundesrepublik noch 1964 nach dem Paragrafen 175 verhaftet. Außerdem stellen die Schauspielerin Maren Kroymann und ihr Kollege Jannik Schümann Lebensgeschichten homosexueller Männer und Frauen vor.

Stellvertretend für die jüdischen Verfolgten spricht Rozette Kats. Sie wurde 1942 geboren, überlebte bei einem Ehepaar in Amsterdam, während ihre Eltern in Auschwitz ermordet wurden.

Neue Wege und würdiges Gedenken

Für Bas ist die diesjährige Gedenkfeier ein Versuch. Wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt, müssen ohnehin neue Formen entwickelt werden. Dass Schauspieler die Lebensgeschichten der Betroffenen erzählen, ist in der Feierstunde im Bundestag Neuland.

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Bas möchte, dass beides möglich ist: ein neuer Weg und ein würdiges Gedenken. Lehmann erinnert daran, dass Homosexuelle heute so weit wie nie zuvor in der Geschichte Deutschlands gleichgestellt sind – trotz aller Anfeindungen.

Er appelliert an junge queere Menschen: “Seid, wer ihr seid und steht zu euch. Es mag Widerstand geben, aber sucht Gleichgesinnte, sucht Beratungsgruppen. Und ihr werdet feststellen, dass es auch viel Glück und Freiheit gibt, Menschen zu finden, die euch so akzeptieren, wie ihr seid.”