Die Frage nach dem Leid und der Präsenz Gottes inmitten dessen ist zweifellos eine der größten Herausforderungen für den Glauben an einen guten Gott. Die Schöpfung ist voller Leben und Schönheit, und das Staunen über das Wunder des Lebens und des Universums führt bei Menschen aller Zeiten zum Glauben an eine höhere Macht, die dafür verantwortlich ist. Doch trotz dieser Vorstellung gibt es noch immer viele Dinge, die Leben verletzen, zerstören und somit Leid und Schmerz verursachen.
Natürlich gibt es viel Leid, das wir Menschen selbst verursachen, sei es in großem oder kleinem Maßstab. Aber es gibt auch viel Leid, das nicht von Menschen verursacht wird. Viele Krankheiten, Todesfälle und Naturkatastrophen haben keine menschliche Ursache.
Naturwissenschaftliche Erkenntnisse
Früher, zur Zeit des Alten Orients und der Bibel, könnte man vielleicht noch geglaubt haben, dass ein Gott oder mehrere Götter direkt Einfluss auf die Ereignisse auf der Erde nehmen, wie zum Beispiel Blitze, Erdbeben, Tsunamis oder unerklärliche Krankheiten. Diese Ereignisse konnten als direkte Eingriffe Gottes betrachtet werden, genauso wie das “verschont Werden” von solchen Ereignissen. Doch meiner Meinung nach ist es heute aufgrund der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahrhunderte über die Entstehung des Universums und die Evolution des Lebens nicht mehr möglich, dies anzunehmen.
Diese Erkenntnisse zeigen klar, dass das Zerstören von Leben schon immer Teil des Universums und der Schöpfung war. Naturkatastrophen und die Zerstörung von Leben gab es schon immer, und die Entwicklung der Lebewesen war und ist ein ständiger Überlebenskampf auf Kosten anderer Lebewesen. Außerdem deutet die naturwissenschaftliche Forschung darauf hin, dass unser Sonnensystem in etwa acht Milliarden Jahren nicht mehr existieren wird.
Wir wissen es nicht
In Anbetracht dieser naturwissenschaftlichen Erkenntnisse können wir meiner Meinung nach nicht mehr behaupten, dass das Universum und unsere Erde “die beste aller möglichen Welten” sind, wie es der Philosoph Gottfried W. Leibnitz einst vertreten hat. Seine Begründung, dass es gewisses Gutes nur gibt, weil es gewisses Übel gibt (z.B. Mitgefühl, Hilfsbereitschaft), war meiner Meinung nach schon damals nicht überzeugend. Entsprechend haben ihm verschiedene Zeitgenossen widersprochen.
Auch die vielen anderen Erklärungsversuche, warum es trotz der Annahme eines guten Gottes so viel Leid und Zerstörung gibt, vermögen nicht zu überzeugen. Zum Beispiel sind die nicht von Menschen verursachten Übel keine Folge der “menschlichen Freiheit”, und die Vorstellung, Gott lasse uns Schmerzen erfahren, um unsere Seele zu formen, ist zu menschlich gedacht. Aus meiner Sicht ist es auch keine Lösung, zu sagen – wie manche in Bezug auf östliche Religionen -, dass Schmerz, Leid und Tod einfach zum Leben gehören und weder “gut” noch “böse” sind. Natürlich gehören all diese Dinge zum Leben, wie wir es erfahren, aber das bedeutet nicht, dass sie gut oder moralisch richtig sind. Es wäre durchaus denkbar und wünschenswert, ein Leben ohne Leid, Schmerz und Tod zu haben, und es wäre sicherlich genauso sinnvoll wie unser gegenwärtiges Leben. Außerdem ist es auch das Ziel vieler östlicher Religionen, das Leid zu beenden.
Der katholische Theologe Herbert Vorgrimler hat richtig betont, dass wir auf logischer und theoretischer Ebene Gott angesichts des Elends nicht rechtfertigen können. Das Theodizee-Problem ist definitiv unlösbar, und alle Versuche, eine theoretisch-systematische Rechtfertigung für Gott zu finden, sind menschlich-zynisch und unsensibel.
Wir klammern uns manchmal an vermeintliche Antworten, um dem unsäglichen und unerklärlichen Leid in der Welt nicht vollständig zu erliegen. Doch auf die Frage, warum es schon immer Naturkatastrophen und unverschuldetes Leid gibt, haben wir keine überzeugende Antwort, weder aus theologischer noch aus wissenschaftlicher Sicht. Wir wissen es schlichtweg nicht, und dieses Nichtwissen ist schwer zu ertragen.
Die Frage nach Gott
Zusätzlich stellt sich die Frage, wo Gott im Leid ist und was er tut oder nicht tut angesichts des Leids. Traditionell geht man in jüdischer, christlicher und islamischer Theologie davon aus, dass Gott allgütig, allwissend und allmächtig ist und dass er verlässlich ist und nicht willkürlich handelt. Dennoch bleibt die Frage bestehen, die schon der griechische Philosoph Epikur gestellt hat: Wenn Gott will und kann, was allein für Gott angemessen ist, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?
Die Frage, warum Gott die Übel nicht “wegnimmt”, beschäftigt die Menschen schon immer. Viele Psalmen schreien zu Gott: “Wie lange noch…?” oder “Wo bist du…?” Auch das biblische Buch Hiob ringt mit der Ungerechtigkeit, dass es den rechtschaffenen und ehrlichen Menschen schlecht geht, während die Tyrannen und Verbrecher Gesundheit und ein gutes Leben genießen. Hiob hat Recht, wenn er dies bei Gott beklagt und sogar anklagt. Seine Freunde, die versuchen, diese Ungerechtigkeit zu erklären und zu sagen, dass Hiob selbst schuld daran sei, liegen falsch.
Trotz des Leids in der Welt verlieren viele Menschen ihren Glauben an Gott. Andere halten trotz des Leids oder gerade wegen des Leids am Glauben an Gott fest. Der jüdische Schriftsteller und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel hat die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald überlebt und sich sein ganzes Leben lang gegen Gewalt, Unterdrückung und Rassismus engagiert. Auch die Frage nach Gott hat ihn nie losgelassen. Angesichts des Holocaust, des Völkermords an sechs Millionen Juden durch die Nationalsozialisten, spricht Elie Wiesel von Stille, Entsetzen und der Entrechtung Gottes. Er sagte einmal: “Jude zu sein bedeutet, allen Grund in der Welt zu haben, keinen Glauben an Sprache, Gesänge, Gebete und Gott zu haben; aber trotzdem die Geschichte weiterzuerzählen, den Dialog aufrechtzuerhalten und meine eigenen stillen Gebete zu haben und mich mit Gott auseinanderzusetzen.”
Trotz allem Leid und Unsicherheit halten einige Menschen also den Glauben an Gott aufrecht. Diese Frage bleibt jedoch eine individuelle und persönliche Suche nach Antworten. Jeder Mensch muss für sich selbst herausfinden, wie er mit dieser Herausforderung des Leids und des Glaubens umgeht.