Es war eine angenehme Überraschung für mich als Spieler und Tester: “Guild Wars” war das erste und bisher einzige Online-Rollenspiel, das mich sowohl objektiv als auch subjektiv so sehr fesselte, dass es zu einem Höhepunkt des Jahres wurde. Egal ob Einsteigerfreundlichkeit, Bedienung oder NPC-Kampfgefährten – “Guild Wars” traf genau meinen Geschmack. Daher war die Freude groß, als ein Add-on angekündigt wurde. “Guild Wars Factions” ist allein lauffähig und der Preis sowie die optionale Collectors Edition suggerieren, dass dieses Spiel in Bezug auf Größe und Umfang durchaus mit dem Original mithalten kann. Leider hat Ncsoft dabei einige Fehler gemacht, die das Spiel für Neulinge eher zu einer kleinen Enttäuschung als zu einem weiteren Online-Highlight machen.
Der gleiche Kern
Zunächst möchte ich das Konzept und die wichtigsten Besonderheiten von “Guild Wars” beschreiben: Das Spiel besteht nach wie vor aus einer Mischung aus einer PvE-Kampagne und PvP-Duellen zwischen Gilden. Die PvE-Kampagne erinnert zunächst an ein typisches MMORPG wie “World of Warcraft”: Es gibt eine Story und man übernimmt Aufträge, die am besten als Teil einer Party von bis zu 8 Spielern gelöst werden (in manchen Fällen überschreitet “Factions” diese Grenze). Der größte Unterschied besteht in der Trennung zwischen Städten und erforschbaren Gebieten: Nur in den Städten können sich gleichzeitig Hunderte von Spielern treffen, während man in den Gebieten nur die Spieler der eigenen Party sieht. Dies hat den Vorteil, dass es nicht mehr das Problem gibt, dass eine Gruppe sich bis zum Endgegner vorkämpft und dann eine andere die Belohnung einheimst. Zudem kann man mit Hilfe von computergesteuerten Kämpfern auch ohne eine vollständige Party Missionen bestreiten. “Guild Wars” war diesbezüglich sehr allein spielbar.
Eine weitere Besonderheit sind die Fertigkeiten und das damit verbundene Level-Limit. Nach Stufe 20 gibt es keine zusätzlichen Attributspunkte mehr, um die Stärke der beiden Klassen frei zu bestimmen. Stattdessen kann man jederzeit in eine Stadt zurückkehren und diese Punkte beliebig neu verteilen.
Hochgelevelte Charaktere haben dennoch Möglichkeiten zur Verbesserung. Das Fertigkeitensystem funktioniert ähnlich wie Magie in einem herkömmlichen Rollenspiel. Eine Fertigkeit benötigt normalerweise Energie und man kann beliebig viele Fertigkeiten besitzen, aber nur acht gleichzeitig auf dem Kampffeld tragen. Der Wechsel ist nur innerhalb der Städte erlaubt, was taktisches Geschick erfordert. Es gibt keine Möglichkeit, ein Paket mit Fertigkeiten zusammenzustellen, das überall erfolgreich ist. Manche Situationen erfordern mehr Angriffsstärke, andere hingegen mehr Heilung oder Geschwindigkeitserhöhung.
Sechs plus zwei
Neben den sechs bekannten Klassen sind in “Guild Wars Factions” zwei neue hinzugekommen: Assassine und Ritualist. Assassinen sind schnell und kämpfen mit kleinen Dolchen. Sie müssen spezielle Fertigkeitskombinationen zusammenstellen, um bestimmte Angriffe ausführen zu können. Ritualisten hingegen beschwören Geister und nutzen deren Hilfe im Kampf oder zum Schutz der eigenen Mannschaft. Beide Klassen erfordern geschickte Kombinationen von Fertigkeiten.
Die beiden Klassen verdeutlichen jedoch einen Nachteil von “Guild Wars”: Die Kämpfe können mitunter sehr unübersichtlich und hektisch sein, besonders für Neulinge. Es gibt viele Möglichkeiten, die Fertigkeiten der Gegner zu kontern, was eine gewisse Lernkurve erfordert.
Neue Kampagne wie die alte?
Abgesehen von den neuen Klassen gibt es in der PvE-Kampagne von “Guild Wars Factions” nur wenige Neuerungen. Es gibt eine neue Story und einen neuen Kontinent namens Canthia, der sich aufgrund seiner asiatischen Einflüsse vom “Guild Wars”-Szenario unterscheidet. Dennoch werden skeptische “Guild Wars”-Spieler nicht unbedingt überzeugt, da es im Grunde genommen dasselbe ist. Das wäre an sich kein Problem, da “Guild Wars” immer noch ein Online-Rollenspiel ist, für das keine monatlichen Gebühren anfallen. Daher ist es gerechtfertigt, dass dieses Add-on zum Vollpreis verkauft wird, obwohl es nicht die Größe des Originals erreicht. Der erste Grund, warum “Factions” für mich enttäuschend ist, hängt jedoch mit dem Schwierigkeitsgrad zusammen. Ncsoft hat bei der Herausforderungskurve ein unglückliches Händchen gehabt.
Mission 3: Vizunahplatz
Zunächst etwas für diejenigen, die “Guild Wars Factions” nicht kennen: Neben zahlreichen Mini-Aufträgen gibt es insgesamt 13 Hauptmissionen, die für den Fortschritt auf der Karte und in der Story zwingend erforderlich sind. Die ersten beiden Missionen in “Guild Wars Factions” finden auf einer kleinen Insel statt. Es ist jedoch überraschend, wie schnell der eigene Charakter die Levelgrenze erreicht. Selbst für das maximale Level benötigte ich nur etwa das Zehnfache der Zeit. Ich verstehe, dass es bei “Guild Wars” nicht nur um das Leveln, sondern auch um den Ausbau der Fertigkeiten geht. Aber wenn der Zenit so schnell erreicht wird, sollte man besser darauf verzichten.
Nachdem die kleine Insel abgeschlossen war, kam ich auf den eigentlichen Kontinent von Canthia. Dort gibt es ein Gebiet namens Vizunahplatz, wo ich die NPCs Togo und Menloh beschützen sollte. Dies erwies sich als nervige und frustrierende Stelle im Spiel. Die Kämpfe waren stressig und unübersichtlich, besonders für Neulinge. Es war auch ärgerlich, dass eine zweite Party unabhängig von meiner agierte. Bei meinem ersten Versuch haben wir es nicht geschafft, die Gegner zu besiegen. Ich musste die Mission mehrmals wiederholen, bis ich endlich weiterkommen konnte.
Härter und (etwas) hässlicher
Im Großen und Ganzen mag die Kampagne für echte “Guild Wars”-Fans ein tolles Erlebnis sein, da der hohe Schwierigkeitsgrad seinen Reiz hat. Aber Einsteiger oder Fortgeschrittene wie ich werden ohne Hilfe kaum eine Chance haben, diese Stelle zu überwinden. Es ist enttäuschend, dass das Spiel nicht mehr so einsteigerfreundlich ist wie der Vorgänger. Die Szenarien sind weniger abwechslungsreich und insgesamt weniger liebevoll gestaltet. Trotzdem bleiben die Spaßelemente des Originals erhalten. Fans des PvP-Modus können einen Level 20 Charakter erstellen und die Kampfarenen unsicher machen. Das Reisen innerhalb der Welt wird durch die schnelle Teleportation erleichtert. Die Grafik ist zwar weniger beeindruckend als im Original “Guild Wars”, aber immer noch solide. Die Technik mit den schnellen Ladezeiten ist nach wie vor beeindruckend.
Fazit
Ich muss zugeben, dass ich aufgrund meiner negativen Erfahrungen nur einen Teil der Kampagne spielen konnte und auf den Charakter eines Freundes angewiesen war, um das neue “Factions”-Feature auszuprobieren. Dennoch muss sich Ncsoft die Kritik gefallen lassen, dass “Guild Wars Factions” seine Stärke als einsteigerfreundliches Spiel verloren hat. Es ist frustrierend, dass man so früh im Spiel auf Schwierigkeiten stößt und nur langsam vorankommt. Sogar erfahrene “Guild Wars”-Profis werden durch den Zufallsfaktor in Mission 3 unnötig aufgehalten. Die Idee der Bündnisse und Fraktionen ist gut, aber die Umsetzung hat ihre Probleme.
Wer über diese Hindernisse hinwegsehen kann und mit den Einschränkungen der Elite-Missionen leben kann, wird mit “Guild Wars Factions” glücklich sein. Das Spiel hat immer noch seine Stärken, aber auch Schwächen. Hoffentlich wird Ncsoft im geplanten dritten Teil darauf reagieren und das Spiel zugänglicher für Spieler machen, die keine “Guild Wars”-Profis sind.