Der Wind pfeift durch den U-Bahnhof Sternschanze in Hamburg, draußen schneit es, drinnen rennen Menschen durcheinander. In einer Ecke der Bahnstation steht ein Fotoautomat, eine kleine Kabine. Darin sitzt eine Frau auf einem Hocker, ihr Oberkörper hängt auf ihren Oberschenkeln, die Hände auf dem dreckigen Boden. Auf einmal bewegt sie sich und wankt gebückt aus der Kabine. Einige Passanten schauen schnell weg, andere starren sie an, alle laufen einen weiten Bogen um sie.
Sie heißt Skanda. „Wie Skandal, nur ohne l“, erklärt sie mir. „Wo schläfst du?“, frage ich sie. In der öffentlichen Toilette vor der U-Bahnstation, erklärt mir Skanda. Ohne Schlafsachen, der nackte Boden muss reichen. Das Einzige, was sie noch besitzt: eine rosa Mütze und ein Buch „Marzahn mon amour – Geschichten einer Fußpflegerin“.
Wie kann es sein, dass Menschen in Deutschland so leben?
Es gibt diesen Spruch: „In Deutschland muss niemand obdachlos sein.“ Aber stimmt er auch? Schon oft habe ich mich das gefragt. Wenn der Spruch zutrifft, wieso schläft Skanda dann auf den kalten Fliesen in der öffentlichen Toilette? Es muss doch einen anderen Weg geben?!
Nachdem ich Skanda getroffen hatte, beschloss ich, der Sache nachzugehen. Mit der Hilfe von KR-Mitgliedern, Betroffenen und Expert:innen wollte ich außerdem wissen: Was tut die Bundesregierung, um ihr eigenes, hehres Ziel zu erreichen, bis 2030 Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu überwinden?
Das Sozialsystem und seine Versäumnisse
Menschen landen nicht urplötzlich auf der Straße. Obdachlos wird man oft schleichend. Skanda hatte einmal ein ganz normales Leben: Vor 30 Jahren sei sie aus Polen nach Deutschland gekommen, erzählte sie mir. Zuletzt arbeitete sie in einem Hotel an der Rezeption, hatte eine Wohnung, einen Mann. Vor zwei Jahren dann der große Bruch: Nach einem Streit mit ihrer Chefin wurde sie gekündigt, so erzählt sie es. Wenige Wochen später trennte sich auch noch ihr Mann. Sie musste aus der Wohnung raus. Zwar bekam sie Arbeitslosen- und Wohngeld, fand auf dem angespannten Wohnungsmarkt in Hamburg aber keine Wohnung, die sie sich mit der staatlichen Unterstützung hätte leisten können. So landete die heute 53-Jährige schließlich auf dem Toilettenboden. Einen Schlafsack und eine Isomatte hat sie nicht mehr; es war Skanda zu anstrengend, immer ihre ganzen Sachen mit sich herumzuschleppen.
Es gibt in Skandas Geschichte Parallelen zu der von KR-Mitglied Beatrice: Auch bei ihr fielen die berufliche Kündigung als Leiterin im Projektmanagement und die Scheidung von ihrem Mann zusammen. Jetzt ist sie wohnungslos. Denn Beatrice fällt durch das Raster des Sozialsystems: Weil ihr Arbeitslosengeld zu hoch für einen Anspruch auf Wohngeld oder einen Wohnberechtigungsschein ist, hat sie kein Anrecht auf eine Sozialwohnung. Und auf dem engen Berliner Mietmarkt findet die 37-Jährige als Arbeits- und Wohnungslose keine Bleibe. Gegen Mitbewerber:innen, die in ihren sicheren Jobs viel Geld bekommen, hat sie keine Chance.
Würden ihre Eltern in Thüringen sie nicht wieder aufnehmen, müsste Beatrice jetzt in eine Notunterkunft. In Thüringen wird sie sich nun erstmal auf verschiedene Jobs bewerben und hoffen, dann wieder eine Chance auf dem Berliner Wohnungsmarkt zu haben.
Diese Kraft, sich auf Wohnungs- und Jobsuche zu begeben, hatte KR-Leserin Stefanie, die eigentlich anders heißt, nicht. Als sie plötzlich psychisch schwer erkrankte, kam es zu einem Streit mit ihrer Mitbewohnerin, die schließlich Stefanies Untermietvertrag kündigte, so erzählt es mir Stefanie am Telefon. „Damals war ich kaum in der Lage, meinen eigenen Alltag zu bewältigen, geschweige denn, mich auf Wohnungssuche zu begeben“, erinnert sich die 40-Jährige. Also wurde sie wohnungslos. Hilfsangebote für sie habe es viele gegeben. „Aber die kommen einem nicht zugeflogen. Immer musste ich diese Unterstützung einfordern, Anträge stellen und zu Terminen erscheinen. Das konnte ich durch meine Erkrankung einfach nicht.“
Ein Einzelfall ist sie nicht. So wie Stefanie leidet jede:r vierte Obdachlose an einer psychischen Erkrankung. Solche Fälle zeigen exemplarisch: Wohnungslos kann in Deutschland jede:r werden. Es braucht nur einen Grund, um die Miete nicht mehr zahlen zu können, wie eine Kündigung im Job, ein Unfall oder eine Erkrankung. „Wer kein stabiles soziales Netz oder finanzielle Rücklagen hat, steht dann erstmal auf der Straße“, erklärt Tim Sonnenberg, der an der Fachhochschule Dortmund zum Thema „Diskriminierung von Obdachlosen“ promoviert.
Warum wohnen die Menschen nicht einfach in den Unterkünften?
Ihren Weg auf die Straße skizziert Skanda so: Nachdem sie zunächst bei wechselnden Freund:innen auf deren Sofa übernachtet hatte, kam sie in einer Einrichtung für wohnungslose Frauen unter. Mit fünf fremden Frauen, zum Teil drogenabhängig, seit Jahrzehnten obdachlos und verwahrlost, schlief sie in einem Zimmer. Auf engstem Raum, ohne Privatsphäre. Irgendwann, nach einigen Monaten, wurde es Skanda zu viel. Sie entschied sich schließlich für die Straße.
Wie Skanda geht es vielen Obdachlosen in Deutschland. Die meisten von ihnen haben zwar schon einmal in einer Unterkunft für Wohnungslose gelebt, entscheiden sich dann aber doch lieber für die Straße, weil die Unterkünfte oft überfüllt oder zu schmutzig sind. In der Studie im Auftrag der Bundesregierung gaben 40 Prozent der Obdachlosen an, in Notunterkünften zu schlafen, sei ihnen zu gefährlich, sie hätten Angst beklaut zu werden.