Ist Gott ein moralisches Monster?

Ist Gott ein moralisches Monster?

Richard Dawkins, einer der bekanntesten zeitgenössischen Atheisten, beschreibt den Gott des ersten Teils der Bibel mit den Worten: „Der Gott des Alten Testaments ist die unangenehmste Gestalt der gesamten Dichtung: eifersüchtig und auch noch stolz darauf; ein kleinlicher, ungerechter, nachtragender Überwachungsfanatiker; ein rachsüchtiger, blutrünstiger ethnischer Säuberer; ein frauenfeindlicher, homophober, rassistischer, Kinder und Völker mordender, ekliger, größenwahnsinniger, sadomasochistischer, launisch-boshafter Tyrann.”

In der Tat: Lese ich das Alte Testament, stoße ich auf Berichte, die unmenschlich, grauenvoll und abstoßend scheinen. Das bekannteste Beispiel dafür ist Gottes Befehl, das ganze Volk der Kanaanäer auszurotten.

Wie kann ein Gott, der zu Nächsten- und Feindesliebe aufruft, ein solches Massaker anordnen? Widerspricht dieses gewaltsame Vorgehen nicht Gottes Barmherzigkeit? Und regen diese biblischen Texte nicht dazu an, im Sinne des „Heiligen Krieges“ die Kreuzzüge zu wiederholen oder den Dschihad islamischer Fundamentalisten nachzumachen? Ohne Zweifel bergen die alttestamentlichen Berichte einige unlösbare Herausforderungen. Trotzdem ist ein verantwortungsvoller Umgang mit diesen Berichten im Alten Testament gefragt, der Einseitigkeiten in der Auslegung vermeidet.

Lösungsvorschläge der Theologie

In der Geschichte der Theologie finden sich verschiedene Lösungsversuche, um die genannte Spannung zu verringern. Hierzu zählen die folgenden fünf Lösungsansätze:

1. Ablehnung des Alten Testaments: Eine einfache, jedoch extreme Variante findet sich bereits im 2. Jahrhundert, in der Lehre von Marcion aus Sinope. Auf ihn geht die noch heute einflussreiche Annahme zurück, dass der Gott des Alten Testaments böse und rachsüchtig sei, der Gott des Neuen Testaments aber gutmütig und liebend. Marcion nahm deshalb an, es müsse sich um zwei verschiedene Götter handeln, und lehnte daher das Alte Testament als Autorität ab. Diese Auslegung löst zwar das Ausgangsproblem, aber gleichzeitig wirft eine Verbannung des Alten Testaments aus dem biblischen Kanon neue Konflikte und Spannungen auf – dann verstehe ich zum Beispiel nicht, warum Jesus am Kreuz sterben musste.

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2. Extreme Diskontinuität: Vertreter einer anderen Lösung betonen einen starken Bruch zwischen Altem und Neuem Testament. Die beschriebenen Ereignisse und das damit einhergehende Gottesbild kommen mit der Ankunft und Passion Jesu zu einem abrupten Ende. Wie Gott ist und was er tut, wird durch Jesus auf neue, ganzheitlichere Weise offenbart. Daher können die Menschen endlich das primitive Gottesbild des Volkes Israel ablegen. Die starke Betonung eines Bruches lässt jedoch die ebenfalls wahrnehmbaren fortlaufenden Linien beider Testamente außer Acht. So finden sich im Alten Testament Hinweise auf seine Liebe und im Neuen Testament eindeutige Belege für das kommende Gericht.

3. Ablehnung der Historizität: Angesichts mangelnder archäologischer Beweise für einen Völkermord zu Josuas Zeiten streiten einige Theologen die Historizität dieses Ereignisses ab. Sie gehen davon aus, dass es sich bei den Schilderungen um nachträgliche Reflexionen handelt, die gewisse Aspekte der Theologie des Bundesvolkes Israel historisch rechtfertigen sollten. Allerdings erweist sich auch dieser Vorschlag als problematisch. Zum einen ändert diese Annahme nicht das Gottesbild der Israeliten. Sie hatten offenbar keine Schwierigkeit damit, ein solches Vorgehen als göttlichen Befehl hinzustellen. Zum anderen hat dieses Konzept weitreichende Folgen für die Vertrauenswürdigkeit der Bibel.

4. Verneinung eines göttlichen Befehls: Andere Ausleger wiederum behaupten, Gott habe dieses Vorgehen gegen die Kanaanäer nicht befohlen. Vielmehr handele es sich um ein Missverständnis der Israeliten, die diesen Gewaltakt irrtümlicherweise als Gottes Anweisung verstanden hätten. Diese Lösung hält zwar Gott aus dem Spiel, wirft aber zwei Schwierigkeiten auf: Erstens wird in allen Fällen, in denen das Volk oder einzelne Menschen Gott missverstanden haben, dies in anderen Texten kritisiert oder korrigiert. Zweitens wird die Vollstreckung des Banns an den Kanaanäern ausdrücklich als Erfüllung des göttlichen Plans dargestellt.

5. Vergeistlichung des Ereignisses: Wieder andere Ausleger wollen den Text nicht wörtlich, sondern allegorisch verstanden wissen. Der Text vermittelt für sie nicht tatsächliches Geschehen, sondern eine geistliche Lektion. Die Schilderungen könnten ein Bild sein für den geistlichen Kampf gegen satanische Mächte. In der Bibel selbst werden immer wieder Geschichten verwendet, um zu warnen, zu ermutigen, herauszufordern und Hoffnung zu vermitteln. Das stellt jedoch nicht in Frage, dass diese Geschichten tatsächlich passiert sind. Denn die vom Autor gewählte Gattung zeigt klar, dass seine Darstellung kein Gleichnis ist, sondern die Realität beschreiben soll.

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Die bisher diskutierten Konzepte bemühen sich, eine Lösung zu geben, schaffen es aber letztlich nicht, die Spannung aufzulösen. Das kann nur ein genauer Blick auf den literarischen, historischen und theologischen Zusammenhang leisten. Fünf Aspekte können dem heutigen Leser eine Hilfe sein, den Bannbefehl im Kontext der Bibel besser zu verstehen.

Was der Text uns sagt

Leser der Bibel sollten nicht vergessen, dass sie Literatur ist. Entsprechend kann nur der die Absicht des Autors angemessen verstehen, wer die sprachlichen und stilistischen Eigenschaften des Textes erfasst hat. Hier ist vor allem auch der literarische Kontext wichtig, in dem der Text steht. Er macht deutlich, dass der Bannbefehl nicht aus rassistischen Gefühlen gegenüber anderen Nationen erfolgt, sondern es vielmehr um Israels Beziehung zu ihrem Gott geht. Die Hauptabsicht dieser Texte liegt darin, Israels besondere Beziehung zu Gott zu verdeutlichen.

Das unterstreicht den grundsätzlichen Sinn eines Banns im Alten Testament. Denn er beinhaltete zwar die völlige Vernichtung einer Stadt und ihrer Bevölkerung. Im Kern ging es aber darum, dass sich Menschen Gott ganz zur Verfügung stellen. Deshalb bedeutete der Bann vor allem, die Religion der Kanaanäer zu vernichten, die mit ihrem Götzendienst eine geistliche Gefahr für Israel darstellten.

Ein weiterer literarischer Aspekt, der heute viele Leser dieser Texte irritiert, ist der radikale Sprachgebrauch. So heißt es in Josua 6,21: „Und alles, was in der Stadt war, weihten sie der Vernichtung mit der Schärfe des Schwerts, Mann und Frau, Jung und Alt, Rind, Schaf und Esel.“ Verse wie dieser stützen die Annahme, dass Israel bei der Eroberung Kanaans ein grausames Blutbad anrichtete.

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Doch das muss nicht zwangsläufig der Fall sein, denn altorientalische Darstellungen von Kriegsgeschehnissen benutzten das literarische Stilmittel der Übertreibung (Hyperbel). Auch das Buch Josua ist keine Ausnahme und verwendet die damals übliche Militärsprache – mit all den dazugehörigen und damals selbstverständlichen Hyperbeln. Das wusste der damalige Leser, sodass dieses Stilmittel nicht als Verfälschung angesehen wurde.

Was wirklich geschah

Zusätzlich zu den literarischen Erkenntnissen helfen dem Ausleger auch die historischen Fakten, um die betreffenden Texte aus einer angemessenen Perspektive zu betrachten. Denn der Bannbefehl im Alten Testament war ganz klar auf die Kanaanäer beschränkt. Mit allen weiteren Völkern sollten die Israeliten in Frieden leben. Sie sollten nur zur Verteidigung Kriege führen und jede Landnahme über das Gebiet hinaus, das Gott Abraham zugesagt hatte, wurde ihnen von Gott ausdrücklich verboten.

Der göttliche Bannbefehl und die Bestätigung, dass Josua den Bann vollstreckte, erwecken zudem den falschen Eindruck, dass Israel diesen Auftrag im ganzen Land ausführte. Das war aber nicht der Fall. Vielmehr macht das Buch Josua klar, dass dieses Verfahren nur in vier Städten angewendet wurde: Jericho, Ai, Hazor und Lais. Dies wird auch durch archäologische Funde untermauert. Die Archäologie kann eine flächendeckende Zerstörung kanaanäischer Städte nicht belegen.

Des Weiteren kann man davon ausgehen, dass die vier angegriffenen Städte Militärstützpunkte und keine reinen Wohngebiete waren. Archäologisch gesehen fehlt jeder Hinweis auf eine dort ansässige Zivilbevölkerung. In der Bronzezeit wurden Städte hauptsächlich für Regierungsgebäude verwendet, während der Rest der Bevölkerung im Umland wohnte.

Sowohl Jerichos Mauer als auch die Tatsache, dass die Israeliten an einem Tag sieben Mal um die Stadt marschieren konnten, stützen diese Annahme. Es handelte sich eher um einen Militärstützpunkt als um eine Großstadt mit vielen Einwohnern