Liebe Leserinnen und Leser,
heute möchte ich über eine Frage sprechen, die das Gespräch zwischen Christen und Muslimen oft betrifft: Ist Jesus Gott? Diese Vorstellung ist für den Islam absolut unvorstellbar. Lassen Sie mich versuchen, Ihnen die christliche Sichtweise näherzubringen.
Das Bekenntnis zum Glauben
Wenn Ihr Kollege sagt, dass Christen behaupten, Jesus sei Gott, dann berührt er einen wichtigen Punkt. Das Christentum “behauptet” das nicht einfach, sondern es “bekennt” es. Das ist ein entscheidender Unterschied. Nach christlichem Verständnis muss Jesus nicht wortwörtlich in der Bibel sagen: “Ich bin Gott!”, damit Christen daran glauben können. Die Bibel ist kein direktes Wort Gottes, wie es der Koran im Islam ist. Die Bibel erzählt von der Offenbarung Gottes, sie ist selbst keine Offenbarung. Das Christentum gründet sich auf das Bekenntnis: “Jesus ist der Herr!” Im Neuen Testament gibt es viele Stellen, an denen die ersten Christen genau das bekennen. Der Apostel Paulus schreibt zum Beispiel an die Gemeinde in Philippi:
Darum hat Gott ihn erhöht und ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters. (Phil 2,9-11)
Auch wenn Jesus in den Evangelien nicht direkt von sich selbst als Gott spricht, ist das für den christlichen Glauben nicht ausschlaggebend. Es gibt andere Bibelstellen, die es über ihn sagen.
Jesus als Gottes Sohn
Jesus macht auch Aussagen über sich selbst, in denen er sich als Gottes Sohn bezeichnet. Zum Beispiel im Johannesevangelium, Kapitel 14:
Jesus spricht: “Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. Wenn ihr mich erkannt habt, werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Von nun an kennt ihr ihn und habt ihn gesehen.” (Joh 14,6-7)
Aber noch einmal: Es ist nicht entscheidend, dass Jesus sich selbst in der Bibel als Sohn Gottes bezeichnet. Entscheidend ist, dass er als Gottes Sohn bekannt wird.
Die Trinität Gottes
Die Aussage, dass Jesus Gott ist, beruht auf der Vorstellung der Trinität Gottes, also dem Bekenntnis, dass es nur einen Gott in drei “Personen” gibt: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Diese Vorstellung können Muslime nicht akzeptieren, da es ihrem Glauben an den einen und einzigen Gott widerspricht. Die Rede von der Trinität klingt in muslimischen Ohren wie die Verehrung mehrerer Götter. Für den christlichen Glauben ist jedoch die Vorstellung, dass der Schöpfer selbst in Jesus Mensch wurde und durch den Heiligen Geist wirkt, von zentraler Bedeutung. Gott bleibt dennoch der Eine.
Das Jüngste Gericht
Zur Frage des Jüngsten Gerichts steht im Matthäus-Evangelium der Satz von Jesus: “Von dem Tag und der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch nicht der Sohn, sondern allein der Vater.” (Mt 24,36) Damit ist das Datum des Jüngsten Gerichts gemeint. Diese Aussage könnte die Göttlichkeit Jesu infrage stellen. Doch auch hier müssen wir die unterschiedliche Sichtweise auf die Bibel und den Koran berücksichtigen. Die Bibel ist ein Zeugnis unseres Glaubens, aber keine direkte göttliche Offenbarung. Sie enthält Widersprüche, die aus der menschlichen Verfassung resultieren. Dass Jesus das Kommen des Reiches Gottes und somit auch das Jüngste Gericht angekündigt hat, wird in allen Evangelien bezeugt. Aber die Frage nach dem genauen Zeitpunkt beantwortet Jesus unterschiedlich. In der Apostelgeschichte sagt er zu seinen Jüngern: “Euch gebührt es nicht zu wissen, welche Zeit oder Stunde der Vater in seiner Macht bestimmt hat.” (Apg 1,7)
Das Neue Testament entstand zu einer Zeit, in der die Christen das Kommen des Jüngsten Gerichts einerseits dringend erwarteten, andererseits jedoch damit umgehen mussten, dass es auf sich warten ließ. So gibt es verschiedene Aussagen darüber, wann es endlich soweit sein würde. Wichtig war es, weiterhin zu warten und zu hoffen.
Ein Schlussgedanke
Ich habe Ihnen nun viel erzählt, und ich bin mir sicher, dass dies für einen muslimischen Menschen nur verständlich ist, wenn er sich auf die Denkweise des christlichen Glaubens einlässt. Vielleicht ist Ihr Kollege bereit, sich gegenseitigem Verständnis zu öffnen.
Mit herzlichem Gruß,
Ihr Frank Muchlinsky