Ist Jesus in Nazareth oder Bethlehem geboren?

Ist Jesus in Nazareth oder Bethlehem geboren?

Im deutschen Prospekt eines Bildungsreiseunternehmens wurde angekündigt, dass Jesus in Nazareth geboren wurde. Dies führte zu Protestbriefen, da doch allgemein bekannt ist, dass Jesus in Bethlehem geboren wurde. Aber vielleicht kam er tatsächlich in Nazareth zur Welt. Die Verlagerung seines Geburtsortes wirft viele Fragen auf und gehört zu den vielen Legenden, die um die Weihnachtsgeschichte gewoben wurden.

Markus und Johannes sprechen von Jesus aus Nazareth

Der älteste Evangelist Markus erwähnt nichts von Bethlehem, stattdessen bezeichnet er Nazareth ausdrücklich als Jesu “Heimatstadt”. Auch im Johannesevangelium sagt der Jünger Philippus zu Natanael: “Wir haben den gefunden, über den Mose im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben: Jesus aus Nazareth, den Sohn Josefs.” Natanael antwortet erstaunt: “Aus Nazareth? Kann von dort etwas Gutes kommen?” Galiläa mit seinen griechisch geprägten Städten und der hellenisierten jüdischen Oberschicht galt den strenggläubigen Juden als suspekt. Deshalb erfindet Lukas die Geschichte von der Steuerschätzung des Quirinius, bei der jeder in seine Stadt ziehen musste, weshalb auch Josef von der Stadt Nazareth in Galiläa nach Judäa in die Stadt Davids, die Bethlehem heißt, gezogen sei.

Die Geschichte hat jedoch zwei Probleme: Erstens zog nicht jeder bei solchen Schätzungen in seine Heimatstadt, da dies logistisch kaum umsetzbar gewesen wäre. Zweitens fand die Steuerschätzung des Quirinius im Jahr 6/7 nach unserer Zeitrechnung statt, elf bis zwölf Jahre nach der tatsächlichen Geburt Christi zur Zeit des Königs Herodes.

Lukas, der spätere Evangelist

Lukas ist der einzige Evangelist, der von dem Besuch des Engels Gabriel bei Maria weiß, der ihr die Empfängnis eines Sohnes verkündet. Aber wie wusste Lukas davon? Frühere Christen vermuteten, dass Maria ihm die Geschichte erzählt haben müsse. Allerdings wurde das Evangelium des Lukas erst zwischen 80 und 90 n. Chr. verfasst, als Maria bereits verstorben war. Ältere Bilder zeigen den Heiligen Lukas, den Schutzpatron der Maler, wie er Maria porträtiert, während sie ihm aus ihrem Leben erzählt.

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Matthäus erwähnt keinen Engel, der Maria besucht. Als Joseph von ihrer Schwangerschaft erfährt, plant er, sich still von ihr zu trennen, um sie nicht bloßzustellen. Wenn Maria ihm die Geschichte mit dem Engel erzählt hat, so scheint er ihr nicht geglaubt zu haben. Doch dann erscheint ihm im Traum ein Engel und erklärt, dass das Kind vom Heiligen Geist ist. Diese Geschichte berührt uns unmittelbar und hat eine größere Anziehungskraft als die Erzählung von der Geburt im Stall. Wir können uns die Not der jungen Frau vorstellen – damals wurden Mädchen direkt nach der Pubertät mit 13 oder 14 Jahren verheiratet – und die Großzügigkeit des Mannes, der seine männlichen Zweifel überwindet und das schwangere Mädchen heiratet. Gerade diese Ambivalenz des Matthäus-Evangeliums, der Hauch eines Skandals, der über dieser Geburt liegt, macht es für moderne Menschen so faszinierend.

Jesus im Koran

Für den Propheten Mohammed war Ambivalenz nichts. Als Begründer des Islam strebte er danach, das Christentum von allem zu reinigen, was unvernünftig, unlogisch oder mehrdeutig schien. Er konnte mit der Dreifaltigkeit Gottes genauso wenig anfangen wie mit den Widersprüchen zwischen den vier Evangelien in Bezug auf die Umstände von Jesu Empfängnis und Geburt.

So entfernt der Koran alle Hinweise auf konkrete Orte und Zeiten. Alles spielt in einem mythologischen Nirgendwo. In Sure 19 verkündet ein “Gesandter” Allahs der Jungfrau Maria die Geburt eines Sohnes. Sie fragt, wie die biblische Maria: “Wie soll mir ein Sohn geboren werden, wo mich kein Mann berührt hat und ich nicht unkeusch gewesen bin?” Der Gesandte lässt diese Frage unbeantwortet. Maria zieht sich zurück: “Und die Wehen der Geburt trieben sie zum Stamm einer Palme. Sie sprach: ‘O wäre ich doch zuvor gestorben und wäre ganz und gar vergessen!’”. Mit dem Kind kehrt sie “zu ihrem Volk” zurück, wo man ihr Vorwürfe macht, sie habe Schande über die Familie gebracht.

Maria deutet jedoch auf das Neugeborene. Die Leute fragen sich, wie sie mit einem Kind in der Wiege sprechen sollen. Jesus antwortet: “Ich bin ein Diener Allahs, Er hat mir das Buch gegeben und mich zu einem Propheten gemacht.” Das Zweideutige und Ärgerliche der Evangelien ist mit diesem Wunder beseitigt – aber auch der Zauber.

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Die Weihnachtsgeschichte als Geschichte

Auch die Christen der Spätantike und des Mittelalters bemühten sich, Widersprüche auszuräumen und Unklarheiten zu klären. Denn die Vorstellung, dass die Weihnachtsgeschichte “nur” eine Geschichte sei, war ihnen fremd. Sie betrachteten sie als Geschichtsschreibung.

Jede Frage, die aufgeworfen wurde, musste durch eine neue Geschichte erklärt werden. Zum Beispiel die Frage, wie Jesus ohne Sünde sein konnte, wenn er von einer Frau geboren wurde. Die Erbsünde würde er dann von seiner Mutter erben – es sei denn, sie wurde “unbefleckt” empfangen.

So entstand die Legende von Marias Eltern Joachim und Anna. Anna war unfruchtbar, was der Hohepriester als Zeichen göttlicher Missgunst deutete. Daraufhin begab sich Joachim zur Buße in die Wüste. Ein Engel verkündete ihm, er solle zurückkehren und seine Frau an der Goldenen Pforte treffen; sie werde ein Kind empfangen. Die gläubigen Christen deuteten die Begegnung der Eheleute als Moment der wundersamen und reinen Empfängnis. Die Lehre von der unbefleckten Empfängnis Marias wurde 1854 zum Dogma der katholischen Kirche erhoben.

Das Christentum als “physikalische” Religion

Laut Papst Benedikt XVI. ist das Christentum eine “physikalische” Religion, es will Wunder bezeugen und Unklarheiten erklären. So beschäftigten sich die frühen Christen sowohl mit der Lehre von Marias “immerwährender Jungfräulichkeit” als auch mit der Erwähnung von “Brüdern und Schwestern” Jesu in der Bibel.

Das Problem der Geschwister Jesu wurde dadurch gelöst, dass sie Kinder Josephs aus einer früheren Ehe seien. Dies hatte auch den Vorteil, dass Joseph als ein alter, erfahrener Mann dargestellt wurde, der weniger Marias Ehemann als ihr Wächter der Tugend war.

Nach der Legende gaben Joachim und Anna das heilige Kind in die Obhut der Jerusalemer Tempeljungfrauen – obwohl es im Judentum keine solchen Jungfrauen gab. Als Maria ihre erste Menstruation “unrein” wurde und den Tempel verlassen musste, versammelte der Hohepriester die ehrbarsten Männer Israels und bat um ein göttliches Zeichen, wer der Beschützer der künftigen Mutter des Messias sein sollte. Da erblühte der Stab des Joseph aus Nazareth und wurde zu einem Lilienzweig, auf den sich eine Taube setzte.

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Eine schmerzfreie Geburt für Maria

Während eine jungfräuliche Empfängnis durchaus vorstellbar war (obwohl einige Legenden behaupteten, dass Joseph zunächst seine Söhne verdächtigte, Maria geschwängert zu haben), stellte die jungfräuliche Geburt ein Problem dar.

So entstand die Legende der ungläubigen Hebamme Salome. Joseph ging los, um eine Hebamme zu holen, kehrte aber zurück, als das Kind bereits geboren war. Maria schien keine Schmerzen gehabt zu haben – was theologisch folgerichtig ist, da die schmerzhafte Geburt als Fluch Gottes über die sündige Eva angesehen wurde und Maria jedoch frei von Sünde war.

Salome wollte diesem Wunder nicht glauben und führte zur Überprüfung ihre Hand in Marias Scheide ein. Sofort vertrocknete ihre Hand und wäre abgefallen, wenn die reumütige Salome nicht Jesus gebadet hätte. Durch die Berührung mit dem heiligen Kind wurde ihre Hand wieder geheilt und die Hebamme wurde gläubig.

Woher kommen die Heiligen Drei Könige?

All diese Geschichten rund um die Geburt Jesu waren im Mittelalter genauso bekannt wie der Ochse und der Esel, die Heiligen Drei Könige und die Hirten (obwohl Ochse und Esel in der Bibel gar nicht genannt werden, die Könige als Sterndeuter nur bei Matthäus vorkommen, der nichts von Hirten und einer Krippe weiß).

Die Quelle dieser Erzählungen waren das sogenannte “Protoevangelium des Jakobus” und die “Legenda Aurea”, die “goldene Legende”. Obwohl dies keine kanonischen Schriften waren, beeinflussten sie dennoch das mittelalterliche Europa. Für die meisten Menschen waren die Bilder entscheidend. Sie schmückten jeden Altar mit Szenen aus dem Leben Marias, bevor die Reformation eintrat.

Zwar rief auch Martin Luther noch: “Heilige Anna, hilf!”, aber heutzutage sollte es uns nicht stören, dass es verschiedene Häuser in Jerusalem gibt, die als das Haus von Joachim und Anna bezeichnet werden, oder dass es verschiedene Orte in Nazareth gibt, die als die Stätten der Verkündigung verehrt werden. Der Versuch, Wahrheit und Legende, Geschichten und Geschichtsschreibung voneinander zu trennen, wird scheitern. Wir sollten die Fülle der Geschichten genießen, die aus der nüchternen Nachricht einer umstrittenen Geburt in einem galiläischen Nest einen farbenfrohen Roman gemacht haben. Gerade vor Weihnachten sollten wir einfach alles hinnehmen.