Liebe Leserinnen und Leser,
hätte diese Geschichte eine Farbe, dann wäre sie dunkelgelb. Gelb – die Farbe des Neids. Die Geschichte von Kain und Abel trieft förmlich vor Neid. Die Bibel erzählt uns bereits am Anfang von Sündenfall und Mord. Sie verdeutlicht, dass der Mensch seinem Mitmenschen alles nehmen will – sogar das Leben. Natürlich möchten wir nicht Teil einer solchen Geschichte sein. Eigentlich möchten wir die Paradiesgeschichte weiterleben. Doch da gibt es diesen Nachbarn, der uns ständig neidisch macht. Da gibt es diese Schwiegermutter, die uns das Leben schwer macht. Zwistigkeiten, Missgunst und Lügen umgeben uns. Wie sollen wir da souverän, gütig, tolerant und vergebend sein? Wir versuchen uns abzugrenzen und unser kleines Paradies zu bewahren, aber es gelingt uns nicht. Es ist der eigene Bruder, die Schwester, die über uns triumphieren. Es sind die eigenen Eltern, die unsere Geschwister bevorzugen. Und dann ist da Gott, der uns scheinbar nicht sieht und keine Gerechtigkeit schafft. Haben wir nicht verdient, endlich Glück zu haben? Haben wir nicht alles gegeben, um Anerkennung und Erfolg zu erlangen? Und doch scheint es, als ob immer die anderen das große Los ziehen. Wie tief reichen diese Kränkungen und wie sehr bestimmen sie unser Leben! Mancher Erbstreit ist ein spätes Echo von Neidgefühlen in jungen Jahren. Kaum einer kann das wirklich verstehen. Und kaum einer kann helfen.
Und wenn wir uns in der Welt umsehen – was sehen wir dann? Wir sehen die absurdesten Kämpfe, die Gräber der Toten, Millionen von Hungernden, Hass und Zank, Neid und Missgunst. Dabei bietet die Erde uns allen genug, dass wir davon leben könnten. Warum können wir das nicht sehen?
Kain und Abel, das ist mehr als nur ein Kriminalfall. Es ist die Fortsetzung des Sündenfalls. Missbrauch der Freiheit, die uns von Gott gegeben wurde. Der Mensch wendet sich gegen Gott und gegen seine Mitmenschen. Neid und Eifersucht trüben das Bild von uns Menschen. Neid unter den Menschen ist eine zerstörerische Kraft, die nie gestillt werden kann, denn sie will immer nur das haben, was der andere hat.
Ein Schäfer und ein Ackermann, beide frei in der Natur unter offenem Himmel. Der eine grubelt mühsam in der Erde, der andere sorgt sich ständig um seine Tiere. Beide haben einen geschärften Blick für das Wetter und die Raubtiere. Obwohl sie auf engem Raum zusammenleben und festen Regeln folgen, sind sie in gewisser Weise Konkurrenten. Jeder gibt sein Bestes und möchte vor den anderen gut dastehen. Doch nicht alles gelingt und einer von ihnen fällt immer weiter zurück. In dem entscheidenden Moment, beim Opfern der Ernte, wird Kain bloßgestellt. Gott nimmt nur das Opfer von Abel an. Vielleicht hatte Kain das nicht erwartet. Vielleicht fühlte er sich geliebt von seinem Bruder, von allen und von Gott. Doch plötzlich wird ihm diese Liebe entzogen. Scham erfasst ihn. Kain fühlt sich wie von allen guten Geistern verlassen. Warum ausgerechnet er? Er weiß es nicht. Auf der einen Seite steht die unerträgliche Willkür Gottes, auf der anderen Seite hat Kain die Freiheit und die Kraft, die Situation anzunehmen. “Wenn du fromm bist, kannst du auch mit einer solchen Situation leben”, heißt es. Selbst angesichts der größten Ungerechtigkeit – und was könnte größer sein als die Ungerechtigkeit Gottes – kann der Mensch gerecht und gut bleiben. Das Gute wiegt schwer. Und letztendlich wird sich auch Gott am Ende aller Zeiten nach dem Guten richten. “Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.” (Mt 25,40)
Doch Kain kann in diesem Moment keine guten Worte hören. Er ist außer sich. Er, der Handwerker und Bauer, sieht nicht mehr, was er hat und kann. Wenn er, der Ältere, nicht auch im Erfolg vorne steht, dann ist alles nichts. Er sieht sich nur noch als Benachteiligter und Zurückgestellter und bleibt im Teufelskreis seiner gelb-dumpfen Gefühle gefangen. Aus Neid wird er zum Mörder seines eigenen Bruders.
Gott verhindert die Tat nicht, aber er bestraft Kain auch nicht mit dem Tod. Doch von nun an irrt Kain umher – ein Nomade, ein Wanderer. Er fällt von einer Kulturstufe zurück, vom Bauern zum Nomaden. Und dennoch gründet er die allererste Stadt jenseits von Eden und verkörpert damit das moderne Nomadentum.
Wenn Gott weder Abel schützt noch Kain entsprechend bestraft, und die Menschen ganz auf sich gestellt sind, dann führt das zu Mord und ewigem Herumirren. Haben wir von Gott zu viel Freiheit erhalten, mehr als wir ertragen können?
Ja, es ist eine faszinierende Freiheit, die uns in ihrer Unermesslichkeit überwältigt und gleichzeitig blankes Entsetzen auslösen kann. Wir sind keine Marionetten Gottes, die ferngesteuert durchs Leben gehen. Vielmehr hat Gott den Menschen als sein Abbild geschaffen. Er hat sich die Freiheit genommen, mit uns Menschen ein freies Gegenüber zu haben und keine Marionetten. Das bedeutet auch, dass er Morde zulässt. Gott will keine Marionetten, aber er will Menschen, die verantwortungsbewusst leben – so wie Kain diese Chance hatte.
Gott ermahnt uns immer wieder mit den Worten: “Wenn du fromm bist, kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, lauert die Sünde vor der Tür, und sie hat Verlangen nach dir; du aber sollst über sie herrschen.” Das ist die Freiheit, die Gott für uns möchte, denn wir sind keine Marionetten an seinen Fäden. Doch das bedeutet auch, seine Maßstäbe anzunehmen, auch wenn wir das Gefühl haben, zu kurz zu kommen – selbst vor Gott.
Was ist, wenn uns ein neuer Vorgesetzter vor die Nase gesetzt wird, obwohl wir wissen, dass wir die Stelle besser ausfüllen könnten? Was ist, wenn unsere Kollegin bessere Zeugnisse hat, obwohl wir uns als kompetenter empfinden? Die Gedanken drehen sich, es entsteht ein Strudel von Gefühlen und selbstgerechten Aufrechnungen. Der Eindruck setzt sich fest: Gott und das Leben sind ungerecht. Dieses Empfinden von Ungerechtigkeit kann uns alle schnell ergreifen. Doch lassen wir uns von solchen Gefühlen beherrschen? Oder hören wir auf den Ruf Gottes: “Die Sünde ist vor der Tür, aber du sollst über sie herrschen.” Wie schön es im Psalm 4 heißt: “Wenn ihr zürnt, sündigt nicht, und redet in eurem Herzen auf eurem Lager und seid stille.” Jeder von uns hat die Kraft und die Freiheit, böse Gedanken abzuwenden. Es gibt schon genug Tod auf dieser Welt. Doch es genügt nicht, nur unseren eigenen Neid zu bekämpfen. Wir sollten auch auf Abel achten und Hüter unseres Bruders und unserer Schwester sein. Das wird uns seitdem immer wieder gesagt. Aber es sollte uns zum Nachdenken bringen, dass selbst Gott Kain nicht von seinem Verbrechen abhalten konnte.
Ich weiß, dass auch Jesus darüber Entscheidendes gesagt hat. Jeder, der es kann, sollte seine Worte beherzigen. Vielen geht es jedoch wie Kain – sie können gute Worte nicht mehr hören. Nur durch eine letzte Überbietung dieser hoffnungslosen Lage ist Hilfe möglich. Der Aufruf an Kain, sich um die Schwachen und Leidenden zu kümmern, greift hier entschieden zu kurz. Zu viele sind selbst verletzt, empört und beschämt. Ich sehe vor mir die trauernden Erben, die sich feindlich gegenüber sitzen. Ich sehe die Tochter, die den Vater pflegt, der nur über seinen Sohn spricht. Ich sehe das Schattenkind, das neben dem schwerkranken Bruder nichts wert ist. Und die Wut des Antragsstellers vor einer undurchschaubaren Bürokratie, die Ohnmacht der Verletzten, deren Peiniger nach Recht und Gesetz frei sind.
Was sollen wir also tun? Wir richten unseren Blick auf das Kreuz – wie Gott es bei Kain getan hat. Wir betrachten das Bild des Gottessohns, der alle Leiden durchmessen hat. Hierin liegt der christliche Trost und die Gemeinschaft des Leidens, die uns ermutigt, wieder Kraft zu schöpfen und Mut zu fassen. Wer das Bild des lebendigen Gottes in sich trägt durch die Solidarität mit den Sterbenden, der verliert die Enge und die Angst in sich und findet wieder zum Leben zurück.
Wir sind die Kinder Adams und Evas aus dem Paradies. Wir sind aber auch die Kinder Kains aus dem Land Nod, jenseits von Eden – in Elend und Unrast. Bauern und Großstadtnomaden. Wir erzählen die Geschichten von Adam und Eva, von Kain und Abel weiter, weil sie uns die Möglichkeit der Veränderung in unserem eigenen Leben aufzeigen. Es sind Geschichten aus einer schweren Zeit, die einen Keim der Hoffnung beinhalten. Eine Hoffnung, die auf Gottes Gnade gründet: Kain darf leben.
Die Geschichte von Kain und Abel handelt von einem Leben, das ausgelöscht wird, und einem anderen Leben, das bis an den Tod leidet, bevor es durch ein göttliches Zeichen geschützt neu beginnen kann. Diese biblischen Geschichten haben von Anfang an eine tiefe Bedeutung, die nicht durch Aufforderungen zu guten Taten überspielt werden darf. Die Konzentration liegt auf diesem Kreuzeszeichen +. Amen.