Der Alltag mit Kleinkindern steckt voller Gefühle: Sie können vor Freude hüpfen und singen, aber auch lange weinen, wenn sie traurig sind. Und wenn sie wütend sind, dann stampfen sie auf, wollen etwas werfen oder auch mal ein anderes Kind oder einen Erwachsenen hauen. Es ist nicht einfach, mit solchen Gefühlen umzugehen, besonders beim Hauen, Beißen oder Spucken. Wir wollen nicht angegriffen werden, wollen andere Kinder schützen und wünschen uns, dass unser Kind sich sozial in der Gesellschaft bewegt. Aber wer einem Kleinkind in einer Wutsituation sagt: “Nein, nicht hauen!”, weiß oft auch, dass das Kind nicht zwangsweise hört bzw. das Gefühl noch nicht richtig kontrollieren kann.
Die Phase der Aggression
Aggression ist ein natürlicher Teil unserer Gefühlswelt. Allerdings unterscheiden sich Erwachsene in der Art und Weise, wie wir mit Aggression umgehen können, meist von unseren Kindern. Dies liegt zum Teil an unserer genetischen Ausstattung für Hormone und Neurotransmitter, aber auch an den Erfahrungen, die wir in unserer Kindheit gemacht haben, und der allgemeinen Reifung unseres Gehirns. Belastende Erfahrungen und Stress in der frühen Kindheit können einen Einfluss auf die Hemmung aggressiver Impulse haben. Damit wir mit Wut sozialverträglich umgehen können, muss ein bestimmter Hirnbereich, der mediale präfrontale Cortex, die Aktivität der für Emotionen zuständigen Amygdala hemmen.
Bei Kindern sieht das Ganze jedoch etwas anders aus. In einer Studie wurde herausgefunden, dass die körperliche Gewalt von Kindern in der Regel ab einem Alter von 1,5 Jahren zunimmt, ihren Höhepunkt im Alter von 3,5 Jahren erreicht und dann in den meisten Fällen wieder abnimmt. Genetische Faktoren, soziale Erfahrungen und die Interaktion zwischen beiden spielen eine wichtige Rolle dafür, ob sich das aggressive Verhalten zurückbildet oder chronisch wird.
Wie sollten wir also mit Aggression umgehen?
Kinder können von Anfang an sehr unterschiedlich darin sein, ihre Aggressionen auszuleben. Die meisten Kinder durchlaufen eine Phase, in der aggressives Verhalten vermehrt auftritt, und lernen im Laufe der Zeit, wie sie mit Aggression umgehen können. Es ist wichtig, dass sie durch ihre Umgebung lernen, wie sie ihre Gefühle wahrnehmen und angemessen ausdrücken können.
Für Eltern bedeutet das zunächst einmal, dass es normal ist, dass Kinder aggressives Verhalten zeigen. Es ist kein Zeichen für ein Versagen als Eltern, wenn das Kleinkind andere Kinder oder auch Erwachsene hauen will. Wichtig ist jedoch, wie wir als Eltern mit unserem Kind umgehen. Strafen, Druck und andere Formen der Gewalt können langfristige Auswirkungen auf den Umgang unseres Kindes mit Aggression haben. Deshalb ist es wichtig, dass wir in konkreten Situationen, in denen unser Kind haut, beißt, spuckt oder kratzt, angemessen reagieren.
“Den Umgang mit der breiten Palette an Gefühlen müssen Kleinkinder erst üben. Von uns können sie lernen, die Gefühle nicht zu unterdrücken, sondern wahrzunehmen und gut auszudrücken.” – Mierau, Susanne (2020): Geborgene Kindheit
Wenn wir wissen, dass es für das Kind aufgrund seiner Entwicklung noch schwer ist, in schwierigen Situationen überlegt zu handeln, ändert sich unser Blick auf das Kind. Es ist nicht von Natur aus böse, es kann einfach noch nicht anders handeln. Wir Eltern begleiten das Kind auf seinem Weg, diesen anderen Umgang mit Aggression zu erlernen:
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Es gibt Situationen, in denen wir vorhersehen können, dass das Kind gleich wütend wird. Wir sehen, wie sich ein Konflikt zuspitzt und können den Konflikt dann schon im Vorfeld begleiten. Das bedeutet beispielsweise, dass wir das andere Kind vor dem Übergriff schützen können. Wir können auch versuchen, dem Kind eine Alternative anzubieten: “Ich sehe, dass du super wütend bist, das ist okay. Aber lass es nicht am anderen Kind aus, sondern… (stampfe, schreie, boxe ins Kissen…).” Je jünger die Kinder sind, desto schwerer fällt es ihnen jedoch, eine Alternative umzusetzen. Dennoch ist es sinnvoll, andere Wege aufzuzeigen.
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Wut und Aggression sind natürliche Gefühle und gehören zu unserem Leben dazu. Es ist nicht gut, wenn Kinder diese Gefühle unterdrücken müssen oder nicht haben dürfen. Daher ist es wichtig, nicht zu fordern, dass das Kind nicht wütend sein darf. Es darf wütend sein! Es muss nur einen Weg finden, mit der Wut gut umzugehen. Auch in ruhigen Momenten können wir gemeinsam über Aggression und Wut sprechen, auch mit Hilfe von Kinderbüchern.
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Die Aggression eines Kleinkindes hat oft mit dem “Nein” zu tun. Dieses “Nein” ist wichtig für die Entwicklung. Das Kind lernt, dass es Grenzen setzen und für sich einstehen kann. Das Nein ist ein großer Schritt zur Selbstbestimmung.
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Strafen sind keine sinnvolle Reaktion auf die Aggression eines Kleinkindes. Durch Strafen lernt das Kind, dass dieses Gefühl nicht sein darf. Es kann auch dazu führen, dass das Kind das wütende Verhalten im Geheimen zeigt und aus Angst vor Bestrafung lügt, wenn es darauf angesprochen wird. Auch eine Auszeit ist keine angemessene Reaktion auf die Aggression eines Kleinkindes.
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Wenn immer wieder aggressive Konflikte auftreten und das Kind andauernd aggressiv ist, kann das ein Hinweis darauf sein, dass es dem Kind gerade nicht gut geht. In solchen Fällen lohnt es sich, genauer hinzusehen und die Ursachen zu identifizieren. Strafen und Druck sind auch hier unangemessen. Das Kind hat ein Problem, das wir einfühlsam erkennen müssen.
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Unser eigener Umgang mit Wut ist ebenfalls wichtig. Wie gehen wir als Eltern mit unserem eigenen Wutgefühl um? Das Kind beobachtet uns und lernt viel von uns.
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Der Satz “Nicht hauen!” kann schwierig sein, da Kinder das “nicht” darin nicht richtig wahrnehmen. Es ist daher manchmal besser, Alternativen aufzuzeigen und das Kind auf andere Weise zu unterstützen.
Aggression ist normal und Teil der Entwicklung. Als Eltern müssen wir lernen, wie wir sinnvoll mit den Aggressionen unserer Kinder umgehen können, damit sie lernen, selbst damit umzugehen.
Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin mit Schwerpunkt Kleinkindpädagogik und Familienbegleiterin. Sie hat an der FU Berlin in Forschung und Lehre gearbeitet, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbstständig gemacht hat. Ihr Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social-Media-Kanäle sind wichtige Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.
Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de
Zum Weiterlesen:
- Juul, Jesper (2017): Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist. – Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch.
- Mierau, Susanne (2020): Geborgene Kindheit. Kinder vertrauensvoll und entspannt begleiten. – München: Kösel.
- Strüber, Nicole (2019): Risiko Kindheit. Die Entwicklung des Gehirns verstehen und Resilienz fördern.