Lebensgeschichten aus einem alten Gefängnis

Lebensgeschichten aus einem alten Gefängnis

Sie sind auf der Suche nach jemandem mit handwerklichem Geschick gewesen. So kam ich als gelernter Schreiner zu diesem anspruchsvollen Beruf.” Toni Wirth verbrachte fast sein ganzes Leben im Gefängnis. Aber der 83-jährige war kein Insasse, sondern arbeitete 36 Jahre lang als Aufseher und 24 Jahre als Gefängnisverwalter im ehemaligen Bezirksgefängnis Hinwil im Zürcher Oberland. Das Gefängnis Hinwil, das im Jahr 1950 erbaut wurde, ist seit 20 Jahren geschlossen. Heutzutage werden die ehemaligen Korridore und Zellen von Filmteams gemietet, um in einer besonderen Umgebung Szenen zu drehen. Zur gleichen Zeit übernahm Wirths Ehefrau Ruth den Job als hauswirtschaftliche Betriebsleiterin. Zu ihren Aufgaben gehörten das Kochen und Waschen im Gefängnis. “Heutzutage nennen sie es nicht mehr Gefängnisverwalter, sondern Gefängnisleiter”, erklärt Urs Pfenninger. Er ist seit über 20 Jahren Experte für den Justizvollzug und arbeitete drei Jahre lang mit dem Ehepaar Wirth in Hinwil zusammen. Heute ist Pfenninger im Gefängnis Pfäffikon tätig. Vieles hat sich verändert. Es gibt nun den Gruppenvollzug, bei dem die Gefängnistüren fünfmal pro Woche für drei Stunden geöffnet werden und die Insassen sich frei im Gefängnis bewegen können. Sie können Sport treiben, sich unterhalten, lesen, ihre Zellen putzen oder duschen. Die Aufseher spielen gelegentlich eine Runde Pingpong. In diesem Konzept steht die soziale Sicherheit und der Kontakt im Vordergrund.

Wer schnell sein wollte, arbeitete für Zigaretten

In Pfäffikon befinden sich die Insassen in Untersuchungshaft. “Bei uns”, sagt Pfenninger, “steht der Täter im Mittelpunkt. Früher war das anders, man ließ die Gefangenen spüren, dass sie sich in einem Gefängnis befanden. Sie waren am Rande der Gesellschaft.” Zur Zeit von Wirth konnten die Insassen einmal am Tag im Freiluftbereich spazieren gehen. Es gab keinen Aufenthaltsraum. Soziale Kontakte konnten während der Arbeit in der Werkstatt gepflegt werden. Die Gefangenen arbeiteten für die Privatindustrie und konnten so Geld verdienen. “Wenn jemand kein Geld hatte, aber unbedingt Zigaretten haben wollte, arbeitete er schneller als erwartet”, schmunzelt der ehemalige Gefängnisverwalter. “Bei uns ist das mit der Arbeit heute immer noch so. Einmal pro Woche können die Insassen für 70 Franken einkaufen”, erzählt Pfenninger, der derzeit im Nachtdienst arbeitet. “Es waren auch bei uns 70 Franken. Das ist erstaunlich, denn in diesen 20 Jahren sind die Preise kontinuierlich gestiegen”, stellt Ruth Wirth fest.

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Zu Wirths Zeiten war es üblich, dass der Verwalter mit seiner Familie in der Dienstwohnung über dem Gefängnis wohnte. Die Familie Wirth hatte keine eigene Küche, sondern musste in der Gefängnisküche kochen. In der Wohnung gab es eine Gegensprechanlage, die klingelte, wenn einer der Gefangenen nachts etwas brauchte. Wenn ein Insasse in der Zelle einen Wutanfall hatte, war die ganze Familie wach. “Das ist heute unvorstellbar.” Wirth hatte ein gutes Gespür für Menschen, und so vertrauten ihm einige Insassen Dinge an, die sie nicht jedem erzählt haben. Trotz seines Berufs hat er den Glauben an das Gute im Menschen nie verloren, obwohl es manchmal schwierig war. “Wir haben so manche besondere Geschichte erlebt”, bringt sich die 80-jährige Ruth Wirth ein. Einmal war ein junger, aggressiver Mann bei Ihnen, vor dem alle Aufseher Angst hatten. Also brachte Wirth ihm das Abendessen in seine Zelle. Der Mann hatte einen Anfall, nahm die Kutteln mit Tomatensauce entgegen, drückte sie Wirth ins Gesicht und packte ihn. “Es war wie im Film”, der Boden war rutschig, weil die ganzen Kutteln herumlagen. Schließlich biss der Gefangene Wirth in den Rücken. “Die Bissspuren waren lange Zeit sichtbar.”

“Ich habe nichts dabei gedacht”

In Pfäffikon gibt es ausschließlich Männer in den Zellen. In Hinwil hingegen gab es auch Frauen, was jedoch selten der Fall war. Es gab eine separate Frauenzelle, abgeschieden von den anderen Zellen. Die Frauen konnten nicht mit den Männern arbeiten und schon gar nicht im Freiluftbereich spazieren gehen. Sie hätten ständig unangenehme Kommentare von männlichen Insassen hören müssen. Die nur 1,43 Meter große Ruth Wirth lacht: “Einmal bin ich mit einer Insassin und unserem Hund im Wald spazieren gegangen. Ich habe nichts dabei gedacht, sie konnte nicht entkommen, und wenn doch, dann wäre sie nicht weit gekommen. Sie trug nur Sandalen.” Das größte Problem für Wirth damals war die Sprache. Es gab viele Menschen aus dem Ausland, die nur wenig Deutsch konnten. Aber irgendwie hat man sich mit Händen und Füßen verständigt. Auch heute ist das Kommunikationsproblem noch vorhanden, aber es wird clever umgangen. Bei der Einstellung des Personals ist Mehrsprachigkeit ein wichtiges Kriterium. Für Pfenninger ist Bildung von großer Bedeutung. Daher ist die Bibliothek im Gefängnis für ihn das Herzstück. Er führt regelmäßig Statistiken über ausgeliehene Bücher. Es stehen auch viele fremdsprachige Bücher zur Ausleihe bereit. “Ich muss nicht oft Bücher austauschen oder neue hinzufügen, denn bei mir wechseln die Insassen.”

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Erst nach dem Ausbruch gab es eine Kamera

Und wie stand es früher um die Sicherheit? Bei Wirth gab es erst nach dem Ausbruch von sieben Gefangenen eine Überwachungskamera. In den 1990er Jahren wurde in Pfäffikon eine dritte Etage gebaut. Das Gebäude ist hoch und in der Mitte befindet sich ein Freiluftbereich. Hier kommt kein Insasse auf die Idee auszubrechen. Außerdem ist alles kameraüberwacht und die Eingänge sind elektronisch gesichert. Die Haupttüren lassen sich nur über die Zentrale öffnen. Das Ehepaar Wirth wird wahrscheinlich noch vielen Menschen von seinem spannenden Berufsalltag erzählen, denn heutzutage kann man sich das nicht mehr vorstellen. “Die Zeit vergeht schnell und man könnte meinen, die Geschichten des Ehepaars Wirth stammen aus dem Mittelalter”, kommentiert Pfenninger. Er ist gespannt, was sich im Laufe der Zeit noch alles im Gefängnis verändern wird.