Das Jesus- oder Herzensgebet ist eine Gebetspraxis, die im Osten als Herzensgebet und im Westen als Jesusgebet bekannt ist. Diese Praxis wird in verschiedenen Schulen gelehrt, aber sie alle haben eines gemeinsam: Der Name Jesu wird wie ein Mantra wiederholt. Die bekannteste Form ist: “Jesu, Sohn Gottes, erbarme dich meiner”, aber es gibt auch viele andere Kurzformen wie “Jesu, erbarme dich” oder “Christe eleison”. Es ist sogar möglich, die Formel intuitiv auszuwählen, damit sie am besten zum Betenden passt. Ich habe damit persönlich gute Erfahrungen gemacht.
Die Wiederholung der Gebetsformel kann mit der Konzentration auf den Atem verbunden werden. Tatsächlich verlangsamt sich der Atem durch die Fokussierung auf das Gebet von selbst und wird gleichmäßiger.
Obwohl der Satz wie eine Bitte formuliert ist, ist es kein Bittgebet, bei dem es darum geht, Gott Bitten oder Wünsche vorzutragen. Das Ziel dieses Gebets ist vielmehr ein Zustand innerer Ruhe, den man im griechischen Sprachraum Hesychia, Ruhe/Stille, nennt. Die Bewegung, die sich dieser Gebetspraxis widmet, nennt sich Hesychasmus. Es geht darum, loszulassen, Gelassenheit und inneren Frieden zu finden und letztendlich eine direkte persönliche Gotteserfahrung zu machen. Im Mittelalter war das Zentrum dieser Bewegung die Mönchsgemeinschaft auf dem Berg Athos. Eine theoretische Erklärung für die vielen Lichtvisionen, die als Folge dieser Gebetspraxis auftraten, formulierte im 14. Jahrhundert der Theologe Gregorius Palamas. Obwohl Gottes Wesen für uns Menschen letztendlich unergründlich ist, können seine Energien – und damit auch das göttliche Licht – durchaus direkt wahrgenommen werden. (Auf die kniffligen Streitpunkte zwischen Ost und West, die sich aus dieser Annahme ergeben, möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen.)
Die biblische Grundlage für diese Praxis findet sich in 1. Thessalonicher 5, wo Paulus die Christen auffordert, “ohne Unterlass” zu beten:
Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus für euch.
Aber wichtiger als dieses Wort ist die praktische Weitergabe einer Tradition, die bis zu den Wüstenvätern zurückverfolgt werden kann.
Für diejenigen, die zum ersten Mal von dieser Gebetsweise hören, empfehle ich die Bücher von Peter Dyckhoff oder Emmanuel Jungclaussen. Peter Dyckhoff beruft sich in seinen Werken zum Ruhegebet auf Johannes Cassian, einen Kirchenvater des 5. Jahrhunderts, der das Gebet nach seinem Aufenthalt bei den Wüstenmönchen auch in der Westkirche bekannt machte. Jungclaussen hingegen bezieht sich auf die Praxis in der Ostkirche.
Es ist keine gute Idee, ohne Anleitung oder noch besser, ohne persönliche Begleitung mit dieser Praxis zu beginnen. Man kann schnell die Freude daran verlieren. Es ist viel besser, sich behutsam und langsam darauf einzulassen und das Erlebte im Gespräch oder durch ein gutes Buch zu verarbeiten.
Im Unterschied zur Meditation richtet sich das Gebet direkt an eine Person und ist daher dialogisch ausgerichtet. Ansonsten können wir hier durchaus von einer christlichen Meditationsform sprechen, wenn wir “Meditation” als eine Praxis verstehen, die uns in andere Bewusstseinszustände versetzt. Oft begegnet uns in diesem Zusammenhang der Begriff “Versenkung”, der meiner Erfahrung nach gut passt, da es sich wirklich wie ein immer tieferes Fallenlassen in etwas/jemanden anfühlt. Die körperlichen Auswirkungen sind vergleichbar mit denen einer buddhistischen Meditationspraxis. Es gibt also keinen zwingenden Grund, als Christ fremde Traditionen nachzuahmen. (Natürlich steht es uns frei, diese auszuprobieren. 😉)
Zu Beginn geht es darum, die vielen lärmenden und beunruhigenden Gedanken erst einmal wahrzunehmen, sie dann sanft weiterziehen zu lassen und in eine Stille einzutauchen, die uns guttut und beruhigt. Besondere Erfahrungen wie Lichtvisionen oder Auswirkungen auf unser Leben außerhalb der Gebetszeiten treten in der Regel erst nach einer längeren Zeit des Übens auf.
Um diese Zustände schneller zu erreichen und in tiefere Bewusstseinszustände zu gelangen, sind regelmäßige Gebetszeiten wichtig. Dyckhoff empfiehlt zweimal täglich 20 Minuten. Als Mutter eines kleinen Kindes kann ich sagen, dass es besser ist, überhaupt zu praktizieren als gar nicht, auch wenn es aufgrund der Umstände zeitweise nicht möglich ist, einen solch strikten Tagesablauf einzuhalten.
Eine moderne Form des Gebets finden wir bei Sabine Bobert, Professorin für Theologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, in ihrem Werk “Mystik und Coaching” von 2011. An dieser Stelle möchte ich es vorstellen.
Habt ihr schon Erfahrungen mit dieser Gebetsweise gemacht?