Nio ET9: Die nächste Generation des Luxus-Elektroautos aus China

Nio ET9: Die nächste Generation des Luxus-Elektroautos aus China

Nio ET9

Die Präsentation des BMW i7 sorgte bei vielen Journalisten für Verwunderung. Die Frage, wer von der gigantischen Motorhaube und dem prunkvollen Kühlergrill angesprochen werden soll, wurde mit “Russische und chinesische Kunden wollen das so” beantwortet. Doch während russische Kunden heute keine Rolle mehr spielen, könnte es auch bald mit den chinesischen Kunden anders aussehen.

Eine Luxuslimousine in SUV-Größe

Beim gestrigen Nio-Day in Xian enthüllte Nio-Gründer William Li seine Vision für die Zukunft des Luxusautos in China. Der ET9 bricht mit althergebrachten Traditionen und dehnt das bekannte Nio-Design auf 5,33 Meter Länge, 2,02 Meter Breite und SUV-mäßige 1,62 Meter Höhe aus. Damit ist das Fahrzeug 14 Zentimeter länger als ein Mercedes EQS und nur gut fünf Zentimeter kürzer als der i7. Im Gegensatz zum BMW gibt es beim Nio ET9 keine Kompromisse, da er keine Verbrenner-Basis hat. Die Fronthaube wirkt beim ET9 sogar noch kürzer als beim ET5 und ET7, und der Radstand von 3,25 Metern übertrifft sogar den BMW.

Die Innenaufnahmen zeigen, wie der Platz genutzt wird: Das Raumangebot ist überwältigend, die Rücksitze, von Nio selbstbewusst als “First Class” bezeichnet, verfügen unter anderem über ein 58 Zentimeter breites Sitzkissen und die Lehne kann bis zu 45 Grad flachgestellt werden. Natürlich gibt es auch eine ausfahrbare Beinstütze.

Für maximalen Komfort sorgt die Technik: Der ET9 verfügt über ein vollständig dynamisches Fahrwerk, das sich anhand von Lidar- und Kameradaten an die Fahrbahnoberfläche anpasst. Ein zentrales Schlagwort, das Li während der Präsentation verwendete, lautet “by wire” – nicht nur das Fahrwerk wird über den zentralen Rechner gesteuert, sondern auch die Lenkung arbeitet ohne mechanische Verbindung vom Lenkrad zur Vorderachse. Der ET9 ist damit das weltweit erste Serienauto, das eine zentrale Anforderung für zukünftige Level-4-Autonomie erfüllt. Eine zusätzliche Rechenleistung ist für solche Funktionen erforderlich, obwohl der ET5 und ET7 bereits über die leistungsstärksten Bordeinheiten der Automobilwelt mit Nvidia-Technologie verfügten. Im ET9 kommt ein eigens von Nio entwickelter Bordcomputer mit dem NX9031-Chip zum Einsatz. Dieser wird in modernster 5-Nanometer-Technik hergestellt, verfügt über 32 Standard-Rechenkerne und zusätzliche Einheiten für KI-Funktionen mittels neuronaler Netzwerke und ist für alle Sicherheits- und Autonomie-Funktionen verantwortlich.

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707 PS und ein komplett neuer Akku

Der Antrieb des ET9 kann als übertrieben oder auch als angemessen angesehen werden, da die Konkurrenz ähnlich leistungsstarke Werte aufweist. Ein 340 kW starker Motor an der Hinterachse arbeitet zusammen mit einer 180 kW-Maschine an der Vorderachse. Zusammen ergibt das 520 kW (oder 707 PS), was trotz des erwarteten Gewichts von über zweieinhalb Tonnen in jeder Situation ausreichend sein sollte. Nio neigt jedoch nicht dazu, seine Autos auf extremste Beschleunigungswerte zu optimieren. Dies würde auch nicht zu einer Luxuslimousine wie dem ET9 passen. Der Akku markiert einen großen Fortschritt für das junge Unternehmen: Anstatt auf die etablierte Plattform aller bestehenden Nio-Modelle zu setzen, für die gerade erst der 150 kWh große Semi-Solid-State-Akku vorgestellt wurde, verfügt der ET9 über komplett neue Technologie. Der 120 kWh fassende Akku des Topmodells basiert auf selbst entwickelten 46105-Zellen, also Rundzellen mit einem Durchmesser von 46 Millimetern und einer Höhe von 105 Millimetern. Die Idee, solch große Zellen einzusetzen (Standard in einem Tesla Model Y sind z.B. Rundzellen mit einem Durchmesser von 21 Millimetern und einer Höhe von 70 Millimetern), ist nicht neu. Sowohl Tesla als auch BMW führen ähnliche Formate ein. Die Nio-Zellen sind jedoch mit Abstand die größten, was zu einem größeren Akkupaket und einer höheren Kapazität führt. Im Einklang mit dem aktuellen Trend setzt Nio bei der Akku-Architektur auf höhere Spannungen und spricht von einer 900-Volt-Architektur mit Akkuspannungen von bis zu 925 Volt. Lucid nennt ähnliche Werte für seine Akkus.

Vom schnellen Lader zum Ladeweltrekord

Der Akku des ET9 ist nicht mit den bisherigen Akkuwechselstationen von Nio kompatibel, weshalb auf dem Nio-Day eine neue Generation von Servicestationen angekündigt wurde. Die Power Swap Stations der Version 4.0 (PSS 4.0) sollen sowohl die bisherigen als auch die neuen Nio-Akkus unterstützen, wobei der Akkutausch beim ET9 nur noch drei Minuten dauern soll. Bisher waren knapp fünf Minuten erforderlich. Trotz dieses Fortschritts wird der Akkutausch beim ET9 viel weniger attraktiv sein als zuvor. Nio stellte eine neue Ladestation vor, die eine Ladeleistung von 640 kW bietet. Die Spannung kann dabei bis zu 1.000 Volt betragen und der Strom bis zu 765 Ampere.

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Die Ladeelektronik des ET9 soll bis zu 600 kW verarbeiten können. Laut Nio bedeutet dies, dass innerhalb von fünf Minuten genug Strom für eine Fahrstrecke von 255 Kilometern geladen werden kann. Wenn diese Werte bestätigt werden, wäre dies ein einsamer Rekord unter den Serienautos. Anhand dieser Angabe lässt sich auch die erwartete Reichweite des ET9 hochrechnen: Wenn die maximal möglichen 50 kWh in fünf Minuten 255 Kilometern Reichweite entsprechen, würde die gesamte Kapazität von 120 kWh für 612 Kilometer ausreichen. Für die 150-kWh-Variante des ET7 verspricht Nio glatte 1.000 Kilometer nach chinesischer Messnorm.

Wer kauft jetzt noch einen ET7?

Der große Sprung bei der Ladeleistung ist umso bemerkenswerter, da Nio diesem Thema bisher wenig Beachtung geschenkt hat. Das bisherige Topmodell ET7 erreichte in unserem Test lediglich eine Ladeleistung von gut 140 kW, der letzte ET5 Touring mit leicht modifiziertem Akku immerhin 180 kW. Nio verließ sich bisher ausschließlich auf den Akkutausch als Verkaufsargument. Mit dem ET9 gilt nun: Das Auto soll sowohl schnell tauschen als auch schnell laden können.

So attraktiv das Gesamtpaket des ET9 auch ist, wirft es das Nio-Portfolio nachhaltig durcheinander. Bisher war es gerade der Reiz von Nio, dass alle Autos auf das gleiche Akkukonzept setzten. Selbst der günstigste ET5 für gut 50.000 Euro hatte die Option, mit dem zukünftigen 150-kWh-Akku aufgerüstet zu werden. Der ET9 ist hier jedoch eine Ausnahme. Gerade für den deutschen Markt, wo der Ausbau der Akkutausch-Infrastruktur gerade erst begonnen hat, ist der ET9 ein schlechtes Zeichen. Potenzielle Kunden, die wegen des versprochenen 150-kWh-Akkus mit dem ET7 geliebäugelt haben, könnten nun ihre Meinung ändern, einfach weil der ET9 die vierfache Ladeleistung bietet.

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Noch unbekannt: Preis, Lieferdatum, Spezifikationen für Europa

Wann europäische Kunden in den Genuss des ET9, der neuen Akkutauschstationen und der Schnellladesäulen kommen, insbesondere auch welche Ladeleistung Nio mit europäischen CCS2-Steckern bieten kann, ist noch offen. Genauso unbekannt sind der Preis und das Lieferdatum. Für Nio dürfte jedoch die Priorität darin liegen, die europäische Konkurrenz auf dem chinesischen Markt zu übertreffen. Genau dafür wurde der ET9 entwickelt.

Von Sepp Reitberger