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Eine Reise in die Vergangenheit mit Flashmobs
Man sollte vermutlich nach den Erfahrungen der letzten zwei Jahre besser darin sein, aber mich hat in der letzten Woche wieder ein Gefühl gepackt, das ich schon aus den Wochen zu Beginn der Covid-Wellen eins bis drei kenne: Die unangenehm bedrohliche Vorahnung kommender Probleme, die durch anhaltendes Doomscrolling nur noch verstärkt wird. Deutsche Krankenhäuser sind an der Belastungsgrenze, in Rotterdam entlud sich die Spannung in spontanen Straßenkämpfen von Gegnerinnen der Maßnahmen und in Wien gab es eine Großdemo rechtsradikaler Covid-Leugnerinnen – genug Anlässe also, um sich Online obsessiv mit schlechten Nachrichten berieseln zu lassen. In Island wird bei explodierenden Fallzahlen zumindest fleißig geboostert, aber auch hier ziehen sich die Menschen wieder mehr aus dem öffentlichen Raum zurück und versuchen die Kontakte zu reduzieren. Angesichts dieses Stimmungstiefs habe ich beschlossen diesen Newsletter überwiegend mit Dingen zu füllen, die mir in der letzten Woche Freude bereitet haben (mit der kleinen Ausnahme eines Twitter-Spaces Trends, dem ich aber nur wenig Platz einräumen will).
Flashmobs als Quell der Freude
Erinnert sich noch jemand daran, wie in den Jahren um 2010 jede Band, jede Theatergruppe und jedes Symphonieorchester (Hyperbole macht Spaß) einen Flashmob veranstalten musste, dessen Resultat dann als liebevoll produziertes Youtube-Video viele Millionen mal geklickt wurde?
Ich weiß nicht mehr, wie ich in der letzten Woche darauf gekommen bin, aber ich habe gemeinsam mit meinen Kindern an einem Abend obsessiv Flashmob-Videos geschaut, von denen die meisten mehr als fünf Jahre alt waren. Dieser Zeitabstand von wenigen Jahren fühlt sich durch die Pandemie noch größer an, weil die Menschenmengen ohne Masken und Berührungsängste und der Fokus auf gemeinsames Tanzen, Singen und Musizieren in großen Gruppen irgendwie völlig im Gegensatz zur aktuellen Atmosphäre steht – vielleicht war es deswegen so angenehm und entspannend in diesen Videos zu versinken.
Hanna Engelmeier schrieb vor einem Monat anlässlich eines Buchmessebildes von 2019, dass sie “über Vorteile von Zukunft als unbekannter Zeit” nachdenkt und diese Formulierung greift meinen Eindruck bei der Rezeption der Flashmobvideos ziemlich perfekt. Als Nebeneffekt kommt man beim Schauen dieser vielen Videos auch ganz schön rum, da sie teilweise als eine Art Location-Marketing produziert worden sind oder zumindest eng eingebunden in den öffentlichen Raum des Produktionsortes.
Falls ihr also auch eine Reise in die mittlerweile so unglaublich fern wirkenden Flashmobjahre machen möchtet, kann ich euch als Einstieg Carmina Burana im Wiener Westbahnhof 2012 empfehlen. Danach machen wir eine Fahrt nach Nürnberg, wo 2014 gemeinsam die “Ode an die Freude” gesungen und gespielt wurde, schon zwei Jahre zuvor gab es eine ähnliche Aufführung auf einem Marktplatz in Sabadell, Spanien, wo 2013 auf einem Marktplatz in Algemesí auch der “Bolero” von Maurice Ravel aufgeführt wurde. In Perth, Australien singt im Jahr 2015 ein vollgepackter Pendlerzug “Somewhere over the Rainbow”, in Sydney wird 2015 zu “Uptown Funk” und im Bahnhof von Antwerpen zu “Grease” getanzt (einige Jahre zuvor schon zu “Sound of Music”) und am Flughafen von Paris “Let it Go” gesungen.
Viele dieser Flashmobs fanden an sogenannten Transitorten statt: Räume, in denen Menschen hauptsächlich aus Zweckgründen zusammentreffen und die deswegen besonders wirkungsvoll aufgebrochen werden, wenn die Alltagseile und Zielstrebigkeit gestört wird. 2021 wirken diese Videos besonders deswegen, weil sie so stark auf eine Vergangenheit verweisen, in der die Zukunft – unsere pandemische Gegenwart – noch unbekannt war. Dieses Gefühl findet sich auch in vielen der Kommentaren unter den Videos, in denen oft die Sehnsucht nach großen Menschenansammlungen und Konzerten beschrieben wird.
Aber Menschen wären nicht Menschen, wenn sie keine virtuelle Alternative für diese Sehnsucht nach kollektivem Erleben finden würden. Vielleicht sind die TikTok-Videos, in denen mit der Duett-Funktion gemeinsam gesungen und Musik gemacht wird, und die immer wieder auch in diesem Newsletter auftauchen, die den Globus umspannenden Pandemie-Variante dieses Flashmob-Erlebens, das noch vor einigen Jahren für Viralität gesorgt hat: von den vielen Shanty-Variationen zu den #tooeytouch Varianten, zum #muffinman Song bis hin zur #numnumcat (Was hat es eigentlich mit singenden und vibenden Katzen auf sich? Hier muss man sicher auch die #lugalugacat nennen)
Kontroverse um eine exzentrische Konzert-Aktion
Die Sängerin Sophia der Band Brass Against hat bei einem Konzert einem Mann aus dem Publikum – der freiwillig genau dafür auf die Bühne gekommen war – in sein Gesicht gepinkelt. Da die Aktion der Sängerin vom Publikum gefilmt und geteilt wurde (das Video ist sehr drastisch und ganz sicher NSFW, also fühlt euch hiermit vorgewarnt), kam es im Anschluss zu einer Empörungsexplosion in den sozialen Medien – die Band und die Sängerin haben sich mittlerweile entschuldigt.
Die ganze Wut und Empörung ist natürlich ziemlich erstaunlich angesichts der Tatsache, dass schockierendes Verhalten auf der Bühne schon ewig lange ein Marketingsinstrument in der Musikszene ist, von Ozzy Osbourne, der 1982 einer Fledermaus im Konzert den Kopf abbiss bis zu Konzerten der Bloodhound Gang, in denen ziemlich häufig auf dies oder jenes gepinkelt wurde.
Natürlich ist die grundsätzliche Kritik berechtigt, dass alle Zuschauer*innen des Konzertes vollkommen unfreiwillig Teil einer Handlung wurden, der sie zuvor nicht zustimmen konnten und dass das zumindest übergriffig ist. Gleichzeitig ist es aber auch bezeichnend, dass eine eigentlich nicht besonders innovative Schockaktion bei einer Musikerin für soviel empörte Resonanz sorgt. Zumindest gab es auf Twitter in der letzten Woche einige lustige Tweets zum Thema.
Yassification: Wenn der MakeUp-Verschönerungsfilter überhand nimmt
Dem YassifyBot ist in den letzten Wochen auf Twitter nicht zu entkommen gewesen, auch wenn das Phänomen “Yassification” schon über ein Jahr alt ist (zur Entstehung gibt es einen ausführlichen Überblick bei KnowYourMeme).
Lässt man ein Bild immer und immer wieder durch den MakeUp-Verschönerungsfilter von FaceApp laufen (wahlweise auch noch den Feminine-Filter), erhält man irgendwann die “yassified” Variante einer Person. Vielleicht genau das Filterspiel, was wir im Winter 2021 gebrauchen können. (Während ich die Bilder für diesen Teil herausgesucht habe, fiel mir auf, dass ich auch mal etwas zu Slavoj Žižek als Meme machen könnte)
Eigentlich wollte ich noch etwas zu dem absurden Trend zu hyperpolarisierenden Twitter-Spaces machen, die Ende der letzten Woche immer wieder nachts aufgetaucht sind und teilweise mit vielen tausend Leuten gefüllt waren. Angefangen hat es mit einem Twitter-Space mit dem grauenvollen Titel “Nazi bubble vs. kanaken bubble.” Da diese drei Tweets das Phänomen für mich ziemlich umfassend beschreiben, habe ich in diesem Newsletter jedoch drauf verzichtet dem Thema noch mehr Raum zu geben.
Wer übrigens nach diesem musiklastigen Newsletter noch nicht genug hat, wird sich über diese Variante von “What Is Love” freuen. Unter diesem Tweet mit einem Bild von einem Riss im Asphalt, der von einem Künstler mit einem Fliesenmosaik gefüllt wurde, finden sich zahlreiche Verweise auf andere Künstler*innen und ihre interessanten Projekte im öffentlichen Raum.
Mit diesem sehr guten Schnecken-Tweet wünsche ich euch einen schönen Sonntag. Loggt off, wenn das Doomscrolling zu viel wird, oder folgt dem Doomscrolling Reminder Bot, damit er euch dran erinnert regelmäßig eine Pause vom Weltuntergang zu machen.
Habt Danl für die freundlichen Nachrichten und Anregungen, die mich in der vergangenen Woche auf unterschiedlichen Wegen erreicht haben. Wenn euch dieser Newsletter gefällt oder ihr Menschen kennt, die sich ebenfalls über eine sonntägliche eMail freuen würden, dann bin ich euch wie immer sehr für Weiterempfehlungen dankbar. Für den Rest der Woche findet ihr mich auf Twitter und auf Instagram.
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