Polygamie” gilt als Synonym für schlechtes Timing. Nicht nur im Film, sondern auch in der Entscheidung von Sony Pictures, gerade jetzt, zehn Jahre nach Sam Raimis Interpretation, zwischen Joss Whedons “The Avengers” und Christopher Nolans “The Dark Knight Rises”, ein Reboot von “Spider-Man” zu veröffentlichen. Es wirft einfach Fragen auf.
Dabei hätte der Film eine faire Chance verdient, ohne den Schatten seiner prominenten Konkurrenten. Marc Webb hat mit seiner Version einen ganz eigenen Ansatz gefunden, weshalb ich sagen kann: “The Amazing Spider-Man” ist besser als “Spider-Man”. Diese These möchte ich mit einer Fülle von Argumenten unterstützen.
Der grundlegende Zeitrahmen
Beide Filme setzen in Peter Parkers Jugendzeit an und beschreiben den Spinnenbiss, der ihm seine Superkräfte verleiht. In Raimis Version geschieht dies während eines Schulausflugs, während sich in Webbs Interpretation Peter heimlich in ein geheimes Labor schleicht.
Danach entwickeln sich die Handlungsstränge in unterschiedliche Richtungen. In “Spider-Man” sehen wir, wie Peter die Schule verlässt und als Fotograf bei der Zeitung anfängt. Seine Superheldentaten werden von Minute zu Minute heroischer und wagemutiger. In “The Amazing Spider-Man” hingegen bleibt Peter bis zum Ende des Films in der Schule, was seine Entwicklung stark beeinflusst. Aber dazu später mehr.
Peters Motivation
“Spider-Man” beginnt mit Peters Schwärmerei für Mary-Jane Watson. Sie bleibt auch im weiteren Verlauf eine zentrale Figur, obwohl sie in Raimis Film nie eine romantische Beziehung eingehen.
“The Amazing Spider-Man” hingegen beginnt mit einer interessanten Anfangsszene, die Peter als kleinen Jungen zeigt. Sein Vater und seine Mutter lassen ihn bei Onkel Ben und Tante May zurück. Danach kommt es zu einem Zeitsprung und die eigentliche Handlung beginnt.
In Webbs Version versucht Peter, seinem Vater nachzueifern und jede Spur von ihm zu verfolgen. Interessanterweise führt dies auch zum Einbruch in das geheime Labor. Der Spinnenbiss ist also das Ergebnis von Peters familiärer Geschichte. In Raimis Version entsteht der Biss dagegen mehr zufällig, es hätte genauso gut jemand anderen treffen können.
Das Mädchen: Achtung, Spoiler!
Mary-Jane ist in “Spider-Man” die Angebetete, während es sich in “The Amazing Spider-Man” um Gwen handelt. Beide sind Peters Mitschülerinnen.
Während Mary-Jane in “Spider-Man” mit vielen Jungs ausgeht und sich sogar in Peters besten Freund Harry verliebt, scheint Gwen in “The Amazing Spider-Man” von Anfang an Interesse an dem schüchternen Jungen zu haben. Es gibt keinen ernsthaften Rivalen und im Laufe des Films werden Gwen und Peter ein Paar.
Insgesamt ist die Liebesgeschichte in “The Amazing Spider-Man” viel glaubwürdiger. Es gibt eine natürliche Entwicklung: Gwen verliebt sich direkt in Peter, während Mary-Jane nach einer Heldenaktion nur noch von Spider-Man schwärmt. Außerdem ist Gwen viel stärker, selbstbewusster und aktiver. Sie hilft ihrem Freund sogar im Kampf gegen das Böse, während Mary-Jane vor zehn Jahren kaum mehr als Schreien und Weinen konnte.
Der Bösewicht
Natürlich gibt es auch einen Bösewicht. Während sich Norman Osborn in den Green Goblin verwandelt (“Spider-Man”), mutiert Dr. Curtis Connors zum Lizard (“The Amazing Spider-Man”). Beide haben ähnliche Motive: Ungeduld. Osborn wird von Geldgier getrieben und nimmt ein gefährliches Serum ein, um einen lukrativen Waffenproduktionsdeal mit dem amerikanischen Militär abzuschließen. Connors fehlt buchstäblich ein Arm und spritzt sich ein Serum, das ihn mit den Regenerationskräften von Echsen ausstattet.
In beiden Fällen führen diese Selbstversuche zu unerwünschten Nebenwirkungen. Die Verwandlungen in den Green Goblin und den Lizard gehen mit einer latenten Schizophrenie einher, vergleichbar mit Dr. Jekyll und Mr. Hyde.
Der größte Unterschied liegt darin, dass Peter Parker in “The Amazing Spider-Man” teilweise selbst für die Entstehung des Lizards verantwortlich ist. Seine Handlungen führen dazu, dass Connors das Serum entwickelt und beschließt, es an sich selbst auszuprobieren. Osborn hingegen experimentiert ohne jeglichen Einfluss von Peter und ist allein für seine Verwandlung in den Green Goblin verantwortlich.
Die Fähigkeiten
Vor zehn Jahren hat Sam Raimi den Spinnenbiss verwendet, um Peter von einer Sekunde zur anderen übermenschlich zu machen. Er wird stärker, geschickter, kann Spinnennetze aus seinen Handgelenken schießen und hat eine langsamere Wahrnehmung. Diese Zeitlupenszenen zeigen Peter, der sich mit normaler Geschwindigkeit bewegt.
Marc Webb hingegen setzt in seinem Film ganz anders an: Die gesteigerte Wahrnehmung wird im Zeitraffer gezeigt und erzeugt einen viel cooleren Effekt, etwa wenn Peter in Sekundenschnelle eine fliegende Fliege fängt.
Natürlich wird Peter in “The Amazing Spider-Man” durch den Biss auch geschickter und unglaublich stark. Webb zeigt dies in Form von slapstickartigen Missgeschicken. Aber einige Fähigkeiten, wie das Erzeugen von Spinnennetzen, sind das Ergebnis von Peters Bastelgeschick.
Außerdem ist der neue Spider-Man bei weitem nicht so fehlerfrei wie der alte. Er ist zwar stärker als ein normaler Mensch, aber keineswegs unbesiegbar. Raimi zeigt die Verwundbarkeit seines Helden erst gegen Ende des Films im finalen Kampf gegen den Green Goblin.
Die Atmosphäre
All dies führt zu einer ganz eigenen Atmosphäre. “Spider-Man” ist ein typischer Comicfilm. Viele Szenen sind bewusst übertrieben, was durch die knallbunten Farben noch verstärkt wird. Tobey Maguire sieht als Held fast immer frisch gewaschen aus, während Andrew Garfield oft geduckt mit Mütze herumläuft und mit jedem weiteren Abend mehr Blessuren davonträgt.
“The Amazing Spider-Man” wirkt schmutziger und realistischer. Dunkle Farben dominieren das Bild, vor allem in Blau- und Rottönen. Der Unterschied ist nicht so stark wie zwischen Tim Burtons und Christopher Nolans “Batman”-Filmen, geht aber in eine ähnliche Richtung.
Auch die Beziehung zu Onkel Ben und Tante May ist völlig anders. In beiden Filmen wird Ben aufgrund eines unglücklichen Vorfalls erschossen, den Peter theoretisch hätte verhindern können, wenn er zuvor weniger egoistisch gehandelt hätte. Aber hier gibt es auch Gemeinsamkeiten: Während Onkel Ben in “Spider-Man” kaum Charakterisierung erhält und einfach nur als tragisches Opfer dient, erleben wir in “The Amazing Spider-Man” einige interessante Dialoge zwischen ihm und seinem Neffen. Diese erklären nicht nur ihre Beziehung, sondern machen den Tod von Ben auch emotionaler, weil wir ihn kennengelernt haben.
Was Tante May betrifft, profitiert “The Amazing Spider-Man” von einem anderen Aspekt: Sally Field ist großartig und liefert eine makellose Leistung ab. Allein die Szene, in der sie vom Tod ihres Mannes erfährt, ist schauspielerisch betrachtet die beste des Films.
Kämpfe gegen Dialoge
Damit kommen wir zum Abschluss meines Vergleichs, der eigentlich für “The Amazing Spider-Man” und gegen “Spider-Man” spricht. Während Raimi hauptsächlich auf Action und lange Kämpfe setzt, konzentriert sich Webb eindeutig auf die Kraft der Dialoge. Sie sind entscheidend für die Entwicklung von Peter und seiner Beziehung zu anderen Charakteren.
Vollständigkeitshalber sei noch erwähnt, dass “The Amazing Spider-Man” trotzdem nicht perfekt ist und vor allem in der ersten halben Stunde verbesserungswürdig ist. Die Ereignisse, die zur Verwandlung führen, wirken ein wenig zu fantastisch, und der Humor kann mit “The Avengers” von Joss Whedon nicht mithalten.
Warum Sony Pictures diesen Film gerade jetzt veröffentlicht hat, bleibt ein Rätsel. In jedem anderen Jahr hätte “The Amazing Spider-Man” eine reale Chance auf den Titel “Beste Comicverfilmung des Jahres” gehabt. Aber 2012 droht nur ein dritter Platz, falls uns Christopher Nolan mit “The Dark Knight Rises” die gewohnte Qualität seiner Filme liefert. Viele meiner Freunde bezeichnen “The Amazing Spider-Man” daher als unnötige Lückenfüller. Und glaubt mir: Der Film verdient mehr als diese Bezeichnung.