Schiiten und Sunniten: Ein zeitgenössischer politisch-religiöser Konflikt

Schiiten und Sunniten: Ein zeitgenössischer politisch-religiöser Konflikt

Die jahrhundertealte Auseinandersetzung zwischen Schiiten und Sunniten hat ihren Ursprung im 7. Jahrhundert. Der Streit um die legitime Nachfolge des Propheten Muhammad bildet das Herzstück dieser Konfrontation. Während loyal gesinnte Weggefährten das Amt des Kalifen übernahmen, beharrten die Anhänger der Blutsverwandten des Propheten auf der Vorherrschaft von Ali Ibn Talib, dem Cousin und Schwiegersohn Muhammads. Obwohl Ali im Jahr 656 zum vierten Kalifen ernannt wurde, brach ein Bürgerkrieg aus, der erst mit seinem Tod 661 und der Machtübernahme seiner Gegner endete. Die Anhänger Alis, auch bekannt als “Shi’at Ali” oder Schiiten, betrachteten weiterhin nur die direkten Nachkommen Muhammads und Alis als rechtmäßige Herrscher der Muslime.

Ali’s Sohn Husain, der dritte Imam, scheiterte im Jahr 680 bei dem Versuch, die Macht im arabischen Weltreich zu erlangen. Nach seinem Tod in Kerbela im Irak wurden die nachfolgenden Imame zwar zur Passivität gezwungen, jedoch weiterhin verfolgt. Diese Linie endete mit dem zwölften Imam Muhammad al-Mahdi, der im Jahr 874 verschwand und gemäß der schiitischen Lehre am Ende der Tage als Erlöser auf die Erde zurückkehren wird.

In den folgenden Jahrhunderten waren die Schiiten oft unterdrückt und verfolgt, was ihre politische Theorie stark von Ohnmacht und Verfolgung geprägt hat. Der vorherrschenden Ansicht unter den Schiiten zufolge war politische Macht in der Abwesenheit des Imam Mahdi illegitim. Die Gelehrten und Gläubigen sollten sich von den politischen Herrschern ihrer Zeit fernhalten. Die islamischen Großreiche der nächsten Jahrhunderte wurden meist von sunnitischen Dynastien beherrscht, wie den Abbasiden, Mamluken, Moguln und Osmanen. Während dieser Zeit wechselten sich konfessionelle Konflikte mit langen Friedensphasen ab. Größere Auseinandersetzungen traten normalerweise auf, wenn Schiiten politische Macht übernahmen, wie beispielsweise während der Herrschaft der schiitischen Fatimiden zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert in Teilen Nordafrikas und Ägyptens. Dies führte zu einer sunnitischen Gegenreaktion und letztendlich zur Zerstörung des Fatimidenreiches.

Ein uralter Gegensatz wird zum Konflikt der Gegenwart

Bis heute waren Schiiten und Sunniten meist voneinander getrennt und haben tief verwurzelte Vorurteile ineinander gehegt. Allerdings hat sich der ursprünglich religiöse Gegensatz seit den 1960er Jahren zu einem politisch-religiösen Konflikt der Gegenwart entwickelt. Schätzungsweise 85 bis 90 Prozent der weltweit etwa 1,6 Milliarden Muslime sind Sunniten. Schiiten hingegen bilden die Mehrheit im Irak, im Iran, in Aserbaidschan und Bahrain.

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Der gegenwärtige schiitische Islamismus wurde maßgeblich durch den “Chomeinismus” geprägt. Der Ajatollah Ruhollah Chomeini revolutionierte die schiitische politische Theorie, indem er sich von der traditionellen Politikferne der Gelehrten distanzierte. Er argumentierte, dass der führende Rechtsgelehrte seiner Zeit die Gläubigen nicht nur religiös, sondern auch politisch anführen müsse, bis die ersehnte Wiederkehr des Imam Mahdi erfolgt. Chomeini strebte einen islamischen Staat an, in dem die Kleriker alle Lebensbereiche überwachen. Die erfolgreiche Revolution im Iran im Jahr 1979 ermöglichte es ihm nicht nur, die Theorie der “Herrschaft des Rechtsgelehrten” (persisch: “velayat-e faqih”) in die Praxis umzusetzen, sondern auch selbst als dieser Gelehrte zu fungieren.

Die Ereignisse von 1979 waren ein Wendepunkt in Bezug auf den heutigen Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten. Die iranischen Revolutionäre suchten Verbündete in der arabischen Welt und fanden sie hauptsächlich unter schiitischen Gruppen wie der Hisbollah im Libanon, die 1982 gegründet wurde. Vor allem Staaten mit einer starken schiitischen Minderheit, wie Saudi-Arabien, Kuwait und Bahrain, sahen in der Politik des iranischen Revolutionsexports eine direkte Bedrohung. Die Regierungen dort betrachteten die arabischen Schiiten nun vermehrt als potenzielle “fünfte Kolonne” des Irans. Dadurch nahm die Diskriminierung der Schiiten zu und ihr Widerstand ebenfalls.

Islamisten auf beiden Seiten verschärfen den Konflikt

Auf sunnitischer Seite wurden Islamisten zu den wichtigsten Trägern der antischiitischen Ideologie. Besonders die salafistische Strömung des Islamismus fachte den Konflikt an. Salafisten versuchen, ihre Gesellschaften durch eine Rückkehr zu den Lebensweisen der Zeit des Propheten und seiner Gefährten zu verändern. Jedoch führte die Rückbesinnung auf die “frommen Altvorderen” oft zu erneuten Debatten über die Frage, ob die Kalifen der Sunniten oder die Imame der Schiiten die rechtmäßigen Nachfolger des Propheten Muhammad sind. Für die Salafisten besteht kein Zweifel daran, dass die Ansprüche der Schiiten illegitim sind und dass sie nicht als Muslime, sondern als Ungläubige betrachtet werden sollten.

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Die Salafisten und ihr Hass auf Schiiten wurden seit den 1960er Jahren immer sichtbarer, da die Bewegung durch den saudi-arabischen Staat immer mehr Unterstützung erhielt. Der wahhabitische Salafismus ist die offizielle Interpretation des Islam in Saudi-Arabien. Das Königreich entwickelte sich seit den 1960er Jahren zur führenden Macht im sunnitischen Lager und unterstützte weltweit salafistische Gelehrte und Gruppen. Ab 1979 diente diese Politik hauptsächlich zur Eindämmung des Irans, führte jedoch auch zur Verbreitung des schiitenfeindlichen Gedankenguts der Salafisten. Ein unbeabsichtigtes Ergebnis war die Entstehung militanter salafistischer und dschihadistischer Gruppen, die sich zwar ideologisch am saudi-arabischen Wahhabismus orientierten, jedoch den saudi-arabischen Staat ablehnten. Eine der schiitenfeindlichsten Gruppen war al-Qaida im Zweistromland (Mesopotamien), die 2004 gegründet wurde und später ihren Namen in Islamischer Staat (IS) änderte. Das Zweistromland umfasst hauptsächlich den Irak, aber auch Teile Syriens, der Türkei und Irans.

Eskalation seit 2003 und 2011

Der Konflikt erreichte nach der US-amerikanischen Intervention im Jahr 2003 im Irak einen Höhepunkt. Nach dem Sturz Saddam Husseins übernahmen schiitische Islamisten die Macht in Bagdad und schlossen die mehrheitlich sunnitischen Eliten von der Teilhabe aus. Als Reaktion kämpften sunnitische Aufständische gegen die neuen Herrscher, wobei besonders al-Qaida im Irak die schiitenfeindlichste Fraktion war. Ihre Anschläge richteten sich nicht nur gegen schiitische Politiker und religiöse Würdenträger, sondern auch gegen tausende Zivilisten. Dies führte zu einem Bürgerkrieg im Irak zwischen 2005 und 2007, der hauptsächlich zwischen Schiiten und Sunniten ausgetragen wurde und von großer Brutalität und Rücksichtslosigkeit geprägt war. Obwohl die US-Truppen gemeinsam mit der irakischen Regierung die Kontrolle wiedererlangten, erfasste der religiöse Konflikt bald darauf weitere Länder.

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