“Sei mutig wie Iphigenie!”

“Sei mutig wie Iphigenie!”

Ihre erste theologische Arbeit schrieb sie als junge Gymnasiastin in ihrer Heimatstadt Köln. Eine neue Religionslehrerin hatte Dorothee Nipperdey, die in einem skeptisch-protestantischen Elternhaus aufgewachsen war, gefragt, ob sie die ersten drei Kapitel des Römerbriefs in einem Referat behandeln wolle. Sie meisterte die Aufgabe brillant, merkte jedoch kritisch an, dass ihr die Figur der Iphigenie näher stehe als Christus im Römerbrief, der mit seinem Blut Sühne leisten musste. Daraufhin sagte ihre Religionslehrerin Marie Veit, die bei Rudolf Bultmann studiert hatte: “Ja, dann sei doch Iphigenie!” Dieses Wort hat Dorothee Sölle bis heute nicht vergessen. Lehrerin und Schülerin blieben einander verbunden bis zu dem “Politischen Nachtgebet” in Köln in den Jahren nach 1968.

Christin und Widerständlerin

Die Bereitschaft Iphigenies, sich opfern zu lassen, um eine beleidigte Gottheit zu versöhnen, entspricht nicht dem Anliegen von Dorothee Sölle. Aber sie weigert sich vehement, einer Religions- und Staatsraison zu folgen, gemäß der Iphigenie einen Fremden als Priesterin opfern soll, während sie in ihm ihren Bruder erkannt hat. Den Bruder im Fremden zu erkennen und danach zu handeln, ist nur eine Facette des politisch-theologischen Selbstverständnisses von Sölle. Diese hat sie zu einer umstrittenen Leitfigur in verschiedensten Strömungen des radikalen und widerständigen Christentums in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemacht: von der Theologie des “Tod-Gottes”, über politische Theologie und zivilen Ungehorsam bis hin zur Friedensbewegung, feministischen Theologie, Umweltbewegung und schließlich einer neuen theologischen Beschäftigung mit dem Mythos, in dem Gottes Handeln aufscheint, sowie mit der Mystik als radikaler Begründung menschlicher Würde durch die Erfahrung der Einheit mit Gott.

Ihren großen Einfluss auf zahlreiche aktive Christinnen und Christen im deutschsprachigen Raum – auch jene, die sich nicht offen dazu bekennen – verdankt Sölle nicht zuletzt ihrer rhetorischen und literarischen Begabung, die sie kritisch, analytisch und vor allem poetisch einsetzt. In vielen ihrer Gedichte, die sie bewusst als “Gebrauchstexte” bezeichnet, verdichtet sie ihre Gedanken, Gebete, Klagen und Hoffnungen. Wer sie liest, muss sich ihnen stellen. So heißt es in einem ihrer Gedichte über Jesus von Nazareth: “Vergleiche ihn ruhig mit anderen Größen. Sokrates, Rosa Luxemburg, Gandhi. Hier hält das aus. Besser ist allerdings, du vergleichst ihn mit dir.”

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Sölle wurde in ihrer Heimat jahrzehntelang politisch diffamiert und von der akademischen Welt ausgegrenzt, nicht zuletzt wegen ihrer linken Gesinnung und als Frau. Ihre Lehrtätigkeit in den 1970er und 1980er Jahren in New York war daher einer Emigration gleichzusetzen. Doch heute, auch in Deutschland, fühlt sie sich theologisch weniger isoliert als noch vor einigen Jahren. Das macht sie glücklich.

Als wir Dorothee Sölle vor zehn Jahren dazu gewinnen konnten, regelmäßig an den religiösen Radiosendungen mitzuarbeiten, war die Reaktion seitens der evangelischen Kreise eher verhalten. Katholischerseits wurde sie mit dem wenig originellen Reim bedacht: “Ja, ja, mit der Sölle geht’s zur Hölle.”

Als ich ihr dann zum ersten Mal persönlich begegnete, erschien sie mir asketisch, ein wenig müde, blass und zerbrechlich. Doch ich war beeindruckt von ihrer starken und wachen Präsenz – und irgendwie erleichtert, als ich sah, dass sie gerne ein Glas Wein trank.

Während sie als junge Philosophie- und Philologie-Studentin die Seele der Griechen suchte, wandte sie sich bald der Theologie zu, da sie etwas vermisste, was sie schon damals als lebensnotwendig erachtete – für den Einzelnen genauso wie für die Gesellschaft: die Umkehr, die jüdische Teschuwa.

In ihrer jüngsten Veröffentlichung “Zur Umkehr fähig”, einem Buch mit persönlichen Rückblicken und Ausblicken in Form von Gesprächen mit Dorothee Sölle, verfolgt sie erneut die Spuren ihres philosophischen, politischen und theologischen Weges: Kierkegaard, Bonhoeffer, Heidegger, Sartre. Dann Rudolf Bultmann, der sie zwar nicht persönlich als Lehrer erlebte, aber der sie immer wieder zu seiner “theologischen Enkelin” erklärte, sobald sie ihm ihre Veröffentlichungen schickte. Ohne Bultmanns Neudeutung des Mythos wäre ihre Theologie undenkbar, meint sie heute. Es geht um eine Exodus-Theologie, in der Ägypten überall dort ist, wo Menschen unterdrückt werden.

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Auch Martin Buber beeinflusste sie. Sie besuchte ihn in Jerusalem und gewann aus seinem dialogischen Personalismus ein völlig neues Gottesbild. Dies führte sie zur oft missverstandenen “Tod-Gottes-Theologie” und zur feministischen Theologie: Gott ist liebesfähig und liebesbedürftig, männlich und weiblich. Die Vorstellung eines allmächtigen Weltenlenkers, der ununterbrochen liebt und selbst nichts braucht, betrachtet sie als Irrtum des Patriarchats. Ein verwundbarer, leidensfähiger Gott. Christus ist seine Wunde. Alles, was geschieht, ist von Gott gewollt… Das ist eine entsetzliche Theologie.

Für Dorothee Sölle ist es eine zutiefst atheistische Haltung zu behaupten, dass man nichts tun könne angesichts der unhaltbaren Zustände in unserer Welt. Das ist der Glaube an ein blindes Schicksal, dem niemals das Licht der Bibel gefallen ist.

Sie sieht eine politisch befreiende Theologie, die dieser Fatalismus ablehnt, vor allem in der feministischen Theologie in Europa. Diese sollte nicht nur auf Gleichberechtigung abzielen, sondern auch eine neue grundlegende Veränderung anstreben. Denn wir leben falsch. Wir lassen uns vom Konsumismus und Individualismus verkrüppeln, vernebeln unsere Sicht mit einer “Wie-geht-es-mir-heute”-Psychologie, dem Opium der Mittelschicht.

Aus dem Judentum und der Bibel hat Sölle gelernt, dass Theologie in den Tätigkeitswörtern besteht. Es geht darum, immer wieder neue Geschichten von Gott zu erzählen, Hoffnungsgeschichten zu sammeln und die Bibel weiterzuschreiben. Sie ist immer jüdischer geworden und zugleich Jesus nähergekommen. In fast allen Texten ziehen sich solche erlebten Geschichten hindurch, sei es bei den Protesten gegen das Pershing II-Raketendepot 1985 in Mutlangen oder in einem Armenviertel irgendwo in Lateinamerika. Es nützt ihr nichts, die Bibel zu lesen, wenn sie nicht ihr eigenes Leben an ihr beschreibt.

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Mystik und Poesie sind für Dorothee Sölle untrennbar miteinander verbunden. Sie bedauert zutiefst, dass Poesie und Erzählkunst aus dem öffentlichen Leben verschwinden. Dies hängt eng mit der Verdrängung der Religion zusammen, obwohl für sie Poesie und Religion nah beieinanderliegen. Die Mystik ist für sie der Zwischenbereich zwischen Poesie und Gebet, der das innere Licht stärkt, ohne Macht auszuüben. Nur die Mystik überwindet die Gehorsamsbeziehung zu Gott und verwandelt sie in eine Liebesbeziehung. Mystik ist politisch, weil sie Widerspenstigkeit kennt, das “Dennoch” der Liebe. Und die Poesie ist die Frechheit der mystischen Sprache.

Seit 1969 ist Dorothee Sölle in zweiter Ehe mit dem ehemaligen Benediktinerpater Fulbert Steffensky verheiratet. Katholisch und Protestantisch sind für sie schon lange nur noch Dialekte derselben deutschen Sprache. Sie erkennt eine Spaltung der Kirche viel eher zwischen denen, die unten sind, und denen, die oben sind. An diesem Problem muss gearbeitet werden, es lohnt sich!

Ihre autobiografischen Aufzeichnungen “Gegenwind” enden mit einem Satz an ihre Kinder (und Leser): “Vergebt nicht das Beste!” Damit meint Sölle, wie sie in einem Radiointerview sagte, dass wir alle fähig sein sollten zu lieben – das ist der Sinn des Lebens!

Dieser Artikel wurde von Reinhard Boschki und Ekkehard Schuster verfasst und ist in Zusammenarbeit mit Dorothee Sölle entstanden. Die Veröffentlichung “Zur Umkehr fähig” ist ein persönlicher Dialog mit Dorothee Sölle. In dem Buch sammeln die Autoren ihre Gedanken, Erinnerungen und Visionen. Es ist eine intensive Auseinandersetzung mit ihrem Lebensweg und ihrer theologischen Reise. Das Buch “Gegenwind” bietet einen Einblick in ihre Erinnerungen und erzählt ihre Geschichte. In “Spiel doch von Brot und Rosen” findet man ihre Gedichte, die ihre Gedanken und Empfindungen in poetischer Form ausdrücken. Das Buch “Mutanfälle” enthält Texte, die zum Nachdenken anregen und zum Umdenken ermutigen.