Hyperaktiv ist zu viel, kontraaktiv sowieso falsch und propassiv erst recht. Präaktiv wiederum könnte unangenehm vorzeitig wirken. Aber proaktiv ist in. Ob Fitnessstudios für Alte und Junge, Akne-Cremes, Schuldnerberatung, europäische Geldpolitik oder Automatikgetriebe in Pkws – alles ist heute proaktiv. Besonders beliebt: proaktiver Joghurt. Längst ist das Modewort auch ins Management eingezogen und bei Führungskräften und Personalern in aller Munde, vor allem aber bei Beratern, Trainern und Coaches, die das Wort “aktiv” (pro)aktiv in die Tabuzone verbannt haben. Alles Quark, denn hinter dem Modewort steckt nichts, was wir nicht mit bekannten Wörtern ausdrücken können.
Doch sogar der Duden hat den Neologismus aufgenommen: Die Definition: “durch differenzierte Vorausplanung und zielgerichtetes Handeln die Entwicklung eines Geschehens selbst bestimmend und eine Situation herbeiführend”. Die Neuschöpfung wurde vom englischen Wort “Proactivity” übernommen, das auf das Lateinische – “pro” (für) und “activus” (tätig) – zurückgeht. Durch das Buch “Die 7 Wege zur Effektivität” des US-amerikanischen Schriftstellers Stephen R. Covey wurde das Wort 1989 erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Bis zum inflationären Gebrauch hierzulande dauerte es ein wenig.
Proaktivität in Unternehmen
Heute heißt es immer öfter, Unternehmen müssten proaktiv sein. Gemeint ist lediglich, dass sie sich immer wieder neu ausrichten müssen, um im Wettbewerb zu bestehen, und das nicht erst, wenn es zu spät ist. Doch das scheinen ihnen die Proaktiv-Liebhaber abzusprechen, indem sie das Modewort mit Inhalten füllen, die auch ohne den Begriff existieren, etwa frühzeitiges, initiatives und antizipatives Handeln und bewusstes Gestalten. Da kommen das vorhandene Vokabular und die Bedeutung des Worts “aktiv” – tätig, tatkräftig – anscheinend nicht mehr mit. Und Unternehmen wird indirekt unterstellt, sie seien unfähig zur Vorausschau und unflexibel. Selbst Change Management, das das Aktive schon beinhaltet, hat jetzt proaktiv zu erfolgen. Angeblich wird beim bloßen Aktivsein nicht bedacht, dass die Dinge sich unterschiedlich entwickeln könnten. Bei so viel Wortgequirle kann schon mal die Milch sauer werden.
Vor allem konstruieren die Verfechter des Zauberworts gern einen künstlichen Gegensatz von proaktivem und aktivem Handeln, indem sie das normale Aktivsein als reaktiv diffamieren, als Handeln nach dem Reiz-Reaktions-Schema, nur auf Anstoß von außen oder aufgrund von Mängeln. Andererseits stellen sie dreist Aktivität mit Aktionismus gleich, dabei kennt jeder halbwegs intelligente Mensch den Unterschied. Doch was kommt auf? Beratungsbedarf. Schließlich will man ja nicht postaktiv wirken, denn dann hätte man es verhauen.
Aktiv oder reaktiv?
In einem proaktiven Unternehmen mit einer proaktiven Unternehmenskultur muss selbstverständlich auch die Personalabteilung proaktiv sein. HR-Verantwortliche sollen so führen und so rekrutieren. Aber an einer Stelle hat man nicht aufgepasst: Active Sourcing ist natürlich in Wahrheit gar nicht aktiv, sondern proaktiv, sie haben bisher nur vergessen, es umzubenennen, ha!
Wie könnte es anders sein, als dass neue Mitarbeiter nun auch proaktiv sein müssen mit einem ebensolchen Kommunikationsstil, um dann im Unternehmen probiotisch eingebunden zu werden. Schaut man hinter die Wortfassade in Stellenanzeigen, soll der gewünschte Mitarbeiter aber einfach engagiert sein und Eigeninitiative zeigen.
Irgendwo fand ich den Satz, proaktiven Menschen gehöre die Welt und reaktiven nichts. Gehört den proaktiven Mitarbeitern auch bald das Unternehmen? Zu viel Proaktivität kann womöglich nach hinten losgehen. Vor allem drehen sich diejenigen, die ständig das Loblied der Proaktivität singen, doch nur um sich selbst. Wie die angeblich bessere rechtsdrehende Milchsäure im proaktiven Joghurt.
Autorin: Ute Wolter
Erschienen in Ausgabe 03/2017 der Personalwirtschaft.