So haben wir in diesem Jahrzehnt die Welt verändert

So haben wir in diesem Jahrzehnt die Welt verändert

Ein Wort trifft die endende Dekade besonders gut: Anthropozän. Der Begriff wird seit 2008 weltweit immer prominenter von Geologen diskutiert. Er soll eine neue Epoche beschreiben, in die die Erde eingetreten ist. In diesem Erdzeitalter ist der Mensch nicht mehr in die Natur eingebettet, sondern formt sie um – stärker und schneller als alle Naturkräfte es könnten. Normalerweise wird die Dauer geologischer Epochen in Jahrmillionen angegeben. Für diesen Epochenwandel brauchten die Menschen gerade einmal die 170 Jahre seit Beginn der Industrialisierung. Das Wort „Anthropozän” erlebt in den vergangenen zehn Jahren eine beachtliche Karriere. Weltweit wird es jedes Jahr häufiger auf Google gesucht, in Deutschland am häufigsten in Berlin.

Darauf sind wir gestoßen, als wir in den vergangenen Wochen hunderte Datensätze durchforstet haben. Jetzt, da wir am Rand zu 2020 stehen, wollten wir in Fakten fassen, was sich in dieser Dekade eigentlich verändert hat, wollten wissen, ob man dieses vage Gefühl der Beschleunigung mit belegbaren Trends erklären kann. Und was uns das für die nächste Dekade sagt.

I – Die neue Kommunikation

Klimawandel, Globalisierung und Bevölkerungswachstum sind keine neuen Phänomene der 2010er-Jahre. Neu ist, dass wir uns live dabei zuschauen können, wie wir die Welt umbauen. Weil wir uns inzwischen mit einer ganzen Armada an Satelliten, Sensoren und Messtationen selbst beobachten. Und weil der Datenstrom dieser Instrumente immer mehr Menschen zur Verfügung steht. Der Grund dafür ist die Entwicklung des Internets. Sie ist die größte Wandlung in der Gesellschaft in den vergangenen zehn Jahren. 2010 hatten weltweit gut 30 Prozent der Haushalte Zugang zum Internet. Ende 2019 sind es laut der International Telecommunication Union schon 57 Prozent.

Möglich wurde die allgegenwärtige Vernetzung durch die Erfüllung der Vision der Apple-Gründer: Ein Computer, den jeder und jede im Alltag ständig nutzen kann. In den vergangenen zehn Jahren stellte sich heraus, dass diese Computer nicht Laptops, PCs oder Tablets sein werden, sondern Smartphones. 2010 wurden knapp 300 Millionen davon weltweit verkauft, seit 2017 werden jedes Jahr über 1,5 Milliarden verkauft. So wurde Apple zur wertvollsten Firma auf dem Globus. Und dank dieser Technik hat die Mehrheit der Bevölkerung Zugang zum Internet und damit auch zu einer immer schneller wachsenden Menge an Informationen.

Das hat fundamental die Art umgekrempelt, wie wir uns miteinander austauschen:

Noch zu Beginn des Jahrtausends dachten einige, die Kommunikationsgesellschaft könnte zu einer Art Entmaterialisierung führen. Also dazu, dass wir weniger physische Güter bewegen. Wir könnten dann ja jeden Ort der Welt vom heimischen Sofa aus betrachten.

Das Gegenteil ist eingetreten. Das Internet treibt den Güterverkehr weiter an. Laut Daten des Statistischen Bundesamtes ist der Umsatz des Online- und Versandhandels in Deutschland seit 2015 höher als der des Einzelhandels in Verkaufsräumen – und steigt weiter an.

Das wohl größte Massenphänomen der vergangenen zehn Jahre ist Social Media. Was manchmal so wirkt, als gehe es schon wieder vorbei, ist erst in den 10ern wirklich zu einer dominanten Form des Miteinanders geworden.

Mit den sozialen Netzwerke entwickelten sich neue Arten des Sprechens – und des Humors. Die Memes zum Beispiel. Das Merriam-Webster Dictionary definiert sie als „amüsanten oder interessanten Beitrag, […] oder ein Genre von Gegenständen, das online vor allem über soziale Medien weit verbreitet ist.” In den 10ern kamen zu statischen Bildern und lustigen Sprüchen die Gifs, kurze Bildfolgen. Heute sind sie fester Teil der meisten Messenger wie Whatsapp und Co. 2010 waren sie noch wenig verbreitet.

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Menschen haben aber nicht nur angefangen in den sozialen Netzwerken zu spielen. Weltweit begannen Hunderttausende, sich darüber politisch zu organisieren. So wurden die ersten wirklich globalen sozialen Bewegungen geschaffen. Der arabische Frühling wurde durch Social Media befördert, die Proteste in Hongkong auch. #BlackLivesMatter, #MeeToo, #Fridays4Future werden in den Geschichtsbüchern der 2010er-Jahre stehen – beziehungsweise in den Wikipedia-Artikeln dazu. Gleichzeitig ermöglichten die Netzwerke neue Gangarten von Hass: Online-Mobbing, anonyme Hate Speech, Fake News.

Ein Missverständnis hält sich auch in dieser Dekade beständig: Die Vorstellung, „dieses Internet” sei irgendwie „virtuell”, irgendwie nicht-physisch. Dabei haben diese Dekade besonders gezeigt, wie massiv die Welt umgebaut werden muss, um alle zu vernetzen:

Die ganzen Daten brauchen nicht nur Wege. Sie brauchen auch Lagerhallen, Knotenpunkte, Ausfahrten. 2019 soll die Gesamtfläche der Rechenzentren in Frankfurt 600.000 Quadratmeter betragen. Dort befindet sich DE-CIX, der größte Internetknoten der Welt. In dutzenden Serverparks werden dort Daten zusammengefasst, bevor sie beispielsweise über die Niederlande, Frankreich oder Spanien in die Unterseekabel Richtung Amerika weitergeleitet werden. Diese Technik ermöglicht eine Überwachung, wie sie nie zuvor möglich war. Dass wir das wissen, verdanken wir Edward Snowden, der das 2013 bewiesen hat – mit Chelsea Manning und Julian Assange wohl die prominentesten Vertreter einer neuen Gattung von Helden, die die 10er hervorgebracht haben.

Für den Datenhunger der Menschen benötigen die weltweiten Server jedes Jahr mehr Energie. So viel, dass das Internet in der nächsten Dekade zu einer der größten Emissionsursachen werden könnte. Besonders viel zusätzlicher Energieverbrauch wird durch das Wachstum beim Video-Streaming und die zunehmenden Anwendungen von Maschinellem Lernen erwartet.

II – Das neue Klima

Die Wissenschaft spricht schon seit 1972 prominent über den Klimawandel. Aber erst in diesem Jahrzehnt hat es das Thema ins Bewusstsein der Massen geschafft – und auf die politische Tagesagenda. Das liegt leider auch daran, dass die Folgen der Klimawandels inzwischen in den meisten Regionen schon spürbar sind.

Die Gletscher gelten als weltweites Klimathermometer. Mehrere Dutzende von ihnen werden regelmäßig vermessen, indem Forschungsgruppen Löcher hineinschaufeln und Dichte und Fläche der Gletscher bestimmen. So rechnen sie aus, wie viel Wasser die Gletscher im Vergleich zum Vorjahr enthalten. Die Bilanz sieht folgendermaßen aus, wobei jede graue Linie den Wasserverlust eines einzelnen Gletschers verzeichnet:

Auch die Durchschnittstemperatur der Meere ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Genauso die Zahl der Hitzetage und der Starkregenereignisse. Der Hauptgrund für die Erhitzung der Welt ist die Zunahme der CO2-Konzentration in der Atmosphäre. Und die stieg in den 10ern nicht nur weiter an, sondern steigt immer schneller.

Das CO2, das die Menschen ausstoßen, macht noch immer nur wenige Prozent der weltweiten jährlichen CO2-Emmissionen aus. Aber es stört ein komplexes Gleichgewicht. Während auf der einen Seite mehr Stoffe in die Atmosphäre gepumpt werden, wird die Waagschale auf der anderen Seite verkleinert: Die Wälder. Sie sind die wichtigsten Auffangbecken für CO2.

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Inzwischen kann man die Bilder mehrerer hochauflösender Erdbeobachtungssatelliten im Internet abrufen. Sie zeigen, was mit den großen Waldgebieten der Erde passiert:

Der Amazonas ist dabei nur das populärste Beispiel. Die bunten Tiere und heilenden Pflanzen bieten sich besonders an, um in Dokumentarfilmen dargestellt zu werden. Die Länder, in denen während dieser Dekade am allermeisten Wald gerodet wurde, sind andere:

III – Die neue Energie

Die Hauptursache für die schädlichen Klimagase ist der zunehmende Energiehunger der wachsenden Menschheit. Er wird noch immer hauptsächlich mit Öl, Kohle und Gas gestillt. In den vergangenen Jahren werden endlich in größerem Maße Alternativen umgesetzt.

Inzwischen zeigt sich, dass es ein baldiges Ölfördermaximum, den sogenannten „Peak Oil“ nicht so schnell geben wird. Das liegt vor allem daran, dass es in den vergangenen zehn Jahren enorme technische Fortschritte bei der Erschließung schwieriger Quellen wie Ölschiefer oder Tiefseevorkommen gab. BP sagt in seiner aktuellsten Studie für die nächsten Jahrzehnte eine weitere Steigerung der weltweiten Ölförderung voraus.

IV – Der neue Verkehr

Um die gigantischen Mengen an Öl und Kohle zu transportieren, werden immer mehr und immer größere Schiffe gebaut, die weltweit die Ozeane kreuzen.

Neben Energieträgern transportieren die Schiffe immer mehr Baustoffe und vor allem Konsumgüter. Zum Beispiel Autos. Deren weltweite Produktion brach nach der Finanzkrise 2009 zwar ein. Allerdings erreichte die Produktion schon ein Jahr später wieder neue Rekordzahlen.

Die größte Ausnahme in der Wirtschaftskrise bildete Deutschland. Hier nahm der Autoabsatz inmitten der Finanzkrise zu anstatt ab. Der Grund: 2009 führte die Bundesregierung die Abwrackprämie ein, auch „Umweltprämie” genannt.

Interessanterweise stellte sich in den 10er-Jahren heraus, dass den 3-Liter-Autos vorerst kein großer Erfolg beschieden ist. Stattdessen nahm die Größe der Autos eher zu. Andere Merkmale änderten sich dagegen kaum. Fun Fact:

Je mehr die Menschen sich andere Länder online anschauen können, desto mehr wollen sie sie anscheinend auch besuchen. Noch nie bewegten sich so viele Menschen so häufig zwischen so vielen verschiedenen Ländern wie in den vergangenen zehn Jahren. Ermöglicht wurde das durch mehr Flugverbindungen als jemals zuvor.

Immer mehr Menschen können sich das Fliegen inzwischen leisten. Das liegt unter anderem daran, dass die 10er auch die Jahre der Billigairlines waren. Von Flugscham ist in den Passagierzahlen bislang nichts zu sehen. Weltweit steigt die Anzahl der Flüge und der Flugpassagiere weiterhin an. Um die gestiegende Zahl der Flugzeuge abfertigen zu können, wurden in vielen Ländern – teils in wenigen Jahren – riesige neue Flughäfen gebaut. Außer in Berlin.

Trotzdem verzeichnete auch die Hauptstadt neue Rekorde bei den Fluggastzahlen. Der liegt bei 35 Millionen Passagieren. Und wer nicht fliegt, folgt häufig einem anderen Trend der 10er: Kreuzfahrten. Zwei Dutzend weitere Hochseekreuzfahrtschiffe sollen alleine 2020 in See stechen. Die größten fassen über 5000 Passagiere und sind über 300 Meter lang.

V – Die neuen Kriege

Während die einen sich zum Vergnügen auf die Reise begaben, taten es andere aus Not. Die Welt erlebte in Echtzeit riesige Fluchtbewegungen.

Mit den Flüchtlingen und Merkels „Wir schaffen das“ nahm auch die Propaganda der Rechten gegen Einwanderung nach Deutschland zu. Das Wort „Wirtschaftsflüchtling“ hatte Konjunktur in den 10ern. Es soll nahelegen, dass Menschen „nur“ nach Deutschland fliehen, weil sie mehr Geld verdienen wollen und nicht aus „echter“ Not. Wie grundlegend falsch solche Hetze ist, zeigen diese Zahlen:

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Um diese Fakten zu den Opfern der Kriege zusammenzutragen, durchforsten zwei Forschungsgruppen in Uppsala und Oslo alle auffindbaren Regierungs- und Medienberichte. Sie gleichen sie ab und fassen sie in einer Datenbank der Todesopfer organisierter Gewalt zusammen, egal ob der Angreifer ein Staat oder eine politisch motivierte Terrorgruppe war. Solche Erhebungen zeigen auch, dass die Zahl der Terroranschläge weltweit 2014 ein neues Hoch erreichte. Allerdings hauptsächlich in Krisengebieten selbst. In Europa lag die Zahl der Terroropfer in den 10ern weit unter den Zahlen der 70er- und 80er-Jahre.

Jenes Institut für Friedensforschung in Oslo fasst außerdem regelmäßig zusammen, wer am meisten von den Kriegen profitiert, indem es alle belegbaren Importe und Exporte von Kriegswaffen dokumentiert. In den 10er-Jahren arbeitete sich Deutschland dabei weltweit auf den dritten Platz hoch.

Vergleicht man die Zahl der Kriegsopfer allerdings über längere Zeiträume, zeigt sich, dass die Opfer bewaffneter Konflikte global über die Jahrzehnte eher abnehmen. Vor allem die Zahl der Toten pro Konflikt ist gesunken.

VI – Die neue Macht

Klimawandel, Aufrüstung und stockende Energiewende. Wenn das so weitergeht, werden die 2020er wohl düster. Das muss doch auch anders gehen. Wer könnte das ändern?

Vielleicht ja diejenigen, die am meisten Macht haben. In den jährlichen Rankings der Mächtigen von Forbes der vergangenen zehn Jahre finden sich insgesamt 22 Männer – und zwei Frauen.

Vor allem an Macht gewonnen haben also diejenigen, die am erfolgreichsten Dinge und Programme für die weltweite Vernetzung bauen: Google, Apple, Microsoft und Amazon. Wenn die Probleme der Gegenwart gelöst werden sollen, müssten diese Firmen wohl einen entscheidenden Beitrag dazu leisten.

Von vielen anderen, die im vergangenen Jahrzehnt besonders an Macht gewonnen haben, ist wohl eher keine Lösung der globalen Probleme zu erwarten: Donald Trump, Boris Johnson, Wladimir Putin. Die neuen Populisten profitieren bisher anscheinend am stärksten von der Verunsicherung durch die beschleunigte Globalisierung – und nutzen die Möglichkeiten der vernetzten Kommunikation besonders effektiv, um Anhänger zu mobilisieren und Gegner zu unterdrücken.

Im Vergleich zu den massiven Erfolgen der Populisten in anderen Ländern ist der Aufstieg der AfD in Deutschland in der endenden Dekade recht mild verlaufen. Schaut man sich die Umfragewerte der größten deutschen Parteien über den Zeitraum an, fällt vor allem der nahezu kontinuierliche Abstieg der großen Volksparteien auf.

Die globalen Phänomene dieser Dekade verursachen offenbar eine Polarisierung im Wählerverhalten in Deutschland. Zwischen denen, die glauben, eine neue Abschottung, eine Rückkehr zum Nationalen könnte es mit der Globalisierung aufnehmen. Und denjenigen, die Lösungen auf den Klimawandel suchen. Davon profitieren bislang vor allem die Grünen.

Eine sehr positive Nachricht haben wir übrigens auch gefunden. Die Suche nach Lösungen für die 2020er ist erfolgsversprechend. Denn die Menschheit ist jetzt nicht nur erstmals so vernetzt, dass sie über Grenzen und Sprachbarrieren hinweg gemeinsam forschen, diskutieren und denken kann. Mit den bahnbrechenden Fortschritten bei den Anwendungen von Maschinellem Lernen und der Erforschung künstlicher Intelligenz haben wir auch immer bessere Maschinen, um mögliche Lösungswege zu berechenen.

Vor allem aber haben wir mehr Forscherinnen und Forscher als jemals zuvor. Wir werden sie brauchen.