Urteil oder Vergleich? Die Gretchenfrage des Prozessanwalts

Urteil oder Vergleich? Die Gretchenfrage des Prozessanwalts

Als Prozessanwalt steht man oft vor der Entscheidung: Soll man sich gegenüber dem Gegner zurückhalten und einen Vergleich akzeptieren oder den mühsamen und langwierigen Weg bis zu einem Urteil gehen? Beide Optionen haben Vor- und Nachteile. Manchmal ist schnelles Geld gutes Geld. Eine Einigung mit dem Gegner kann von Vorteil sein, wenn man weiterhin mit ihm Geschäfte machen oder anderweitig verbunden bleiben möchte (wie in Nachbarschaftsstreitigkeiten!). Nicht zu vernachlässigen ist auch der Bonus, den das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz dem Anwalt für den Abschluss eines Vergleichs in Form einer zusätzlichen Gebühr verspricht.

Aber letztendlich kommt es immer nur auf eines an, wenn man die Interessen seines Mandanten konsequent vertritt: Man muss prognostizieren, wie der Rechtsstreit ohne Vergleich ausgehen würde. Wenn man die eigenen Chancen schlecht einschätzen kann, ist es ratsam, einen Vergleich abzuschließen. Sind die eigenen Chancen gut, könnte man ein Urteil riskieren.

Dies ist jedoch das eigentliche Problem, denn eine solche Prognose ähnelt oft einem Blick in die Glaskugel, insbesondere wenn eine umfangreiche Beweisaufnahme erforderlich ist und das Ergebnis schwer seriös abzuschätzen ist. In anderen Fällen kann die Rechtslage sehr kompliziert sein oder die Entscheidungsspielräume des Gerichts (das sogenannte Ermessen) sehr groß, sodass man als Anwalt lieber die Kontrolle behalten möchte. Juristerei ist nun mal keine Mathematik und in einem Gerichtsprozess ergibt 2+2 nicht immer 4. Bildlich gesprochen kann es auch 3 oder 5 sein.

Der Verhaltenspsychologe nennt dies “Entscheidung unter Unsicherheit”. Dies betrifft alle Beteiligten eines Rechtsstreits oder eines Strafverfahrens. Sowohl die Rechts- und Staatsanwälte als auch die möglicherweise abschließend entscheidenden Richter treffen Entscheidungen unter Unsicherheit.

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Bei solchen Entscheidungen verwenden die Menschen häufig sogenannte Urteilsheuristiken. Das sind einfache Faustregeln, die komplexe Entscheidungen vereinfachen. Solche Heuristiken sind sozusagen “mentale Abkürzungen”, die Menschen nutzen, um schnell und effizient Urteile zu fällen, ohne auf vollständige Informationen angewiesen zu sein. In der Regel führen sie zu vernünftigen Entscheidungen, können aber auch zu systematischen Fehleinschätzungen führen.

Richter und Anwälte treffen häufig Entscheidungen nach solchen Urteilsheuristiken. Was sollen sie auch tun, wenn ihnen die vollständigen Informationen für die Beurteilung eines komplexen Sachverhalts fehlen? Nach einer umfassenden Beweisaufnahme und genauer Forschung kann man den Sachverhalt besser einschätzen. Aber zu Beginn eines Prozesses gibt es meistens große Unsicherheit darüber, wie das Gericht entscheiden wird.

Deshalb spricht viel dafür, zeitnah einen Vergleich zu erreichen, der Zeit, Mühe und Kosten spart und die Unsicherheit über den Ausgang des Rechtsstreits beseitigt.

Das Interessante an dieser Thematik ist jedoch, dass selbst bei Vergleichsverhandlungen Urteilsheuristiken eine Rolle spielen. Eine davon ist der Darstellungseffekt. In den meisten zivilrechtlichen Klagen hat der Kläger die Wahl, entweder einen Vergleich zu akzeptieren oder auf ein Urteil zu hoffen. Der Beklagte hingegen wählt zwischen der sofortigen Zahlung eines gewissen Betrags zur Beendigung des Streits oder dem Risiko einer geringeren oder gar keiner Zahlung. Experimente haben gezeigt, dass Kläger eher den sicheren Weg des Vergleichs wählen, während Beklagte die riskante Option des Prozesses bevorzugen.

Dies kann jedoch ein fataler Irrtum sein. In der Praxis haben wissenschaftliche Analysen von Gerichtsprozessen gezeigt, dass Kläger oft besser gestellt wurden, wenn sie einen zuvor abgelehnten Vergleich akzeptiert hätten, anstatt auf ein Urteil zu hoffen. Die Beklagten dagegen waren wirtschaftlich oft schlechter dran, wenn sie sich für den Prozess entschieden haben.

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Daher ist es wichtig, Kläger dazu zu ermutigen, weniger nachgiebig zu sein, und Beklagten verstärkt zu einem Vergleich zu raten.

Ich persönlich fühle mich durch diese Erkenntnisse in meinen Handlungen und Entscheidungen bestärkt. Ich habe immer die Auffassung vertreten, dass man sich einem guten Vergleich niemals verschließen sollte, denn letztendlich ist es oft eine wirtschaftliche Frage. Prinzipientreue ist kein guter Ratgeber in einem Zivilprozess. Dies gilt auch, wenn man auf der Beklagtenseite steht und etwas zahlen muss. Wenn der Betrag des Vergleichs geringer ist als die zu erwartende Urteilszahlung, kann man von einem erfolgreichen Ergebnis sprechen.

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