Warum Deutschland ein weißer Fleck auf Google’s Street View ist

Why Germany is a blank spot on Google’s Street View

In Google Maps kannst du über Europa gehen und siehst ein interessantes Bild: Praktisch der gesamte Kontinent ist von den blauen Linien durchzogen, die anzeigen, dass Street View verfügbar ist. Deutschland und Österreich hingegen sind fast vollständig leer.

Unbekannte Regionen

Das erinnert an die Karten des späten 19. Jahrhunderts von Afrika, bei denen das Zentrum des Kontinents leer war und als “unbekannte Regionen” gekennzeichnet wurde. Deutschland und Österreich gehören zu den weltweit fortschrittlichsten Volkswirtschaften. Warum betrachten Google’s Kameraautos diese Länder als unzugänglich und/oder ungemütlich, genauso wie die europäischen Entdecker das Innere Afrikas?

Der Grund ist, dass Deutsche berühmt dafür sind, ihre Privatsphäre zu schützen – eine Einstellung, die auch bei ihren kulturell nahen Nachbarn in Österreich Anklang findet. Aber es kommt darauf an, was man unter “Privatsphäre” versteht. Zum Beispiel sind Deutsche nicht so privat, wenn es um ihre intimen Körperteile geht.

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Totalitäre Traumata

Während öffentliche Nacktheit in den USA ein Tabu ist, hat Deutschland eine lange Tradition der “Freikörperkultur”. Bestimmte Strände und Bereiche von Stadtparks sind dem nackten Sonnenbaden gewidmet, und sogar “Nacktwanderungen” sind in Deutschland möglich.

Auf der anderen Seite sind Deutsche sehr besitzergreifend in Bezug auf ihre persönlichen Daten und schockiert über die Bereitschaft, mit der Amerikaner (und andere) ihre Namen, Adressen, Freundeslisten und Kaufhistorien online teilen.

Laut einer Studie der Harvard Business Review ist der durchschnittliche Deutsche bereit, bis zu 184 US-Dollar auszugeben, um seine persönlichen Gesundheitsdaten zu schützen. Für einen durchschnittlichen Briten ist die Privatsphäre dieser Informationen nur 59 US-Dollar wert. Für Amerikaner und Chinesen fällt dieser Wert auf einstellige Zahlen.

Warum? Weil Deutsche das Trauma von nicht einem, sondern zwei totalitären Systemen in ihrer jüngsten Vergangenheit erlebt haben: dem faschistischen Dritten Reich und dem kommunistischen Ostdeutschland.

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Nie wieder

Beide Regime wollten die totale Kontrolle über ihre Bürger haben. In den Nazi-Jahren war das Instrument des Staates die Gestapo (kurz für Geheime Staatspolizei), in der DDR war es die Stasi (Staatssicherheit).

In beiden Systemen hörten die Bürger effektiv auf, ein Recht auf Privatsphäre zu haben, und konnten für private Gedanken oder Handlungen als Kriminelle gebrandmarkt werden, was zu schweren Strafen führte. Wie bei vielen anderen Aspekten des Nazi-Regimes hat Deutschland nach dem Krieg das Motto “Nie wieder” bezüglich Verletzungen der Privatsphäre verabschiedet. Das ist einer der Gründe, warum der allererste Artikel des damals noch Westdeutschlands nach dem Krieg verabschiedeten Grundgesetzes lautet:

“Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.”

Informationselle Selbstbestimmung

Im Laufe der Jahrzehnte hat Deutschland seine Definition von Privatsphäre erweitert und vertieft.

  • Im Jahr 1970 erließ der deutsche Bundesstaat Hessen das weltweit erste Datenschutzgesetz.
  • Im Jahr 1979 legte Westdeutschland den Grundstein für das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG), das hauptsächlich darauf abzielte, die Unverletzlichkeit persönlicher, privater Informationen zu schützen.
  • In den 1980er Jahren verklagten Bürger erfolgreich die Regierung wegen eines so detaillierten Zensusfragebogens, der es der Regierung ermöglichen würde, Einzelpersonen zu identifizieren. Das Gericht erkannte das Recht der deutschen Bürger auf “informationselle Selbstbestimmung” an und blockierte die Weitergabe von persönlichen Informationen an staatliche Stellen oder Unternehmen.
  • Im März 2010 hat das deutsche Bundesverfassungsgericht ein Gesetz aufgehoben, das den Behörden erlaubte, Telefon- und E-Mail-Daten aus Sicherheitsgründen bis zu sechs Monate lang zu speichern, als “schweren Eingriff” in die persönlichen Datenschutzrechte.
  • Im Mai 2018 hat die EU die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) verabschiedet, die dem deutschen Modell der Datendiskretion folgt, anstatt dem laxeren amerikanischen Modell.

Den Zug verpassen

Ausländische Unternehmen, die in Deutschland tätig sind, müssen sich an einige der strengsten Datenschutzgesetze der Welt anpassen. Aber das Motto “Nie wieder” ist schwierig durchzuhalten in einer Welt, die Daten zunehmend abbaut und monetarisiert. Das unaufhaltsame Vordringen der Digitalisierung wird deshalb mit Fatalismus und Misstrauen betrachtet.

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Ein Beispiel: Deutschlands gespaltene Haltung zu sozialen Medien. Ja, Deutsche misstrauen intuitiv großen Tech-Unternehmen wie Google und Facebook. Gleichzeitig hat Google mehr als 90% des Suchmaschinenmarktes in Deutschland erobert, und fast die Hälfte aller Deutschen hat ein Facebook-Konto.

Ein weiteres Beispiel: Datenschutz geht vor Effizienz. Während die deutsche Volkswirtschaft auf Hightech setzt, um ihre globale Spitzenposition zu halten, ist gutes altes Bargeld auf mikroökonomischer Ebene immer noch der König. Im Jahr 2016 wurden in Deutschland 80% aller Point-of-Sale-Transaktionen mit Bargeld und nicht mit Karten durchgeführt. In den Niederlanden waren es nur 46%.

Briten, Dänen oder Schweden können monatelang ohne Bargeld auskommen. In Deutschland würde man nicht einmal einen Tag überleben. Warum? Wieder ist es der starke Wunsch nach Privatsphäre und das angeborene Misstrauen gegenüber Überwachung. Eine bargeldlose Gesellschaft mag transparenter und effizienter sein, aber auch viel weniger privat.

Wenn es etwas gibt, das die Deutschen noch mehr schätzen als Effizienz, dann ist es – man hat es bereits erraten – Privatsphäre. Deutschland scheint keine Eile zu haben, den Zug der Digitalisierung einzuholen, während andere Länder schon weiter sind und messbare Vorteile erzielen.

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“Eine millionenfache Verletzung”

Ein gutes Beispiel für dieses Phänomen ist das deutsche Debakel von Google Street View. Nach dem Start in den USA im Jahr 2007 hat Google Street View die Straßenpanoramen inzwischen fast weltweit erfasst.

Im Juni 2012 hatte es 5 Millionen Meilen Straßen in 39 Ländern abgebildet. Zum 10. Jahrestag im Mai 2017 waren es insgesamt 10 Millionen Meilen in 83 Ländern.

Street View zeigt Orte, die weit abseits der ausgetretenen Pfade liegen, wie die Internationale Raumstation, Gasförderplattformen in der Nordsee und die Korallenriffe von West-Nusa Tenggara in Indonesien. Aber nicht die Weimarer Straße in Fulda oder die meisten anderen normalen Straßen in Deutschland und Österreich.

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Und das nicht aus Mangel an Versuchen. Im August 2010 kündigte Google an, bis Ende des Jahres die Straßen der 20 größten deutschen Städte zu kartieren. Der Protest war riesig. Einige der Google-Kameraautos wurden beschädigt. Ein 70-jähriger österreichischer Mann, der nicht fotografiert werden wollte, bedrohte den Fahrer eines Fahrzeugs mit einem Gartenpickel.

Ilse Aigner, Deutschlands damalige Verbraucherschutzministerin, nannte Googles “umfassende Foto-Offensive” eine “millionenfache Verletzung der Privatsphäre (…) Es gibt keinen Geheimdienst, der so schamlos Fotos sammeln würde.”

Google verpixelt automatisch Gesichter und Autokennzeichen und auf Wunsch auch die Vorderseiten von Häusern. Insgesamt haben 3% der Haushalte in den relevanten Gebieten darum gebeten, ihre Häuser zu verpixeln. Angesichts dieses beispiellosen Widerstandes veröffentlichte Google im Jahr 2011 die bisher gesammelten Daten, ließ es aber dabei.

Nach der Offenlegung im Mai 2010, dass Google Daten aus unverschlüsselten WLAN-Verbindungen verwendet hatte, wurde Street View in Österreich verboten. Seit 2017 sammelt Google wieder Bilder in Österreich, und seit 2018 sind sie für ausgewählte Orte verfügbar.

Während jüngere Generationen sich immer mehr mit dem transaktionalen Aspekt ihrer persönlichen Daten vertraut machen, werden sich vielleicht auch die deutschen Einstellungen zum Datenschutz wesentlich in Richtung des amerikanischen Modells verschieben.

Aber vorerst hat eine Seite des Arguments deutliche Nachteile. Wie ein Online-Kommentator bemerkte: “Es scheint nicht ganz fair zu sein, dass jeder auf der Welt, einschließlich der Deutschen, einen virtuellen Spaziergang durch meine Straße und meine Stadt machen kann, ich aber nicht dasselbe in ihrem Land tun kann.”

Strange Maps #991

Dieser Artikel wurde ursprünglich im September 2019 veröffentlicht und im Februar 2022 aktualisiert.

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