Manchmal braucht es Zeit, bis ein Buch reift. Im Jahr 2013 wurde “Warum es die Welt nicht gibt” von Markus Gabriel zum ersten Mal in Buchhandlungen veröffentlicht. Mit seinem plakativen Titel und dem lockeren Schreibstil, der viele Verweise auf die Populärkultur enthält, sollte das Buch sicherlich Leser*innen finden. Ich muss gestehen, dass ich es damals – mit einer gewissen akademischen Arroganz – beiseitelegte.
Inzwischen wird Gabriels Werk auch in namhaften wissenschaftlichen Werken rezipiert, was Grund genug ist, es noch einmal zur Hand zu nehmen.
Der junge Professor aus Bonn widmet sich den großen philosophischen Fragen. Was können wir erkennen? Wie nehmen wir die Realität wahr? Gibt es überhaupt eine solche Realität? Und hat das Ganze einen Sinn?
Dabei lässt er sich vom Pragmatismus leiten. Die Tasse Tee auf meinem Schreibtisch in diesem Moment, in dem ich diesen Text schreibe, ist keine bloße Konstruktion. Ich muss mich darüber nicht mit anderen in einem langen philosophischen Diskurs verständigen. Die Tasse existiert und das in verschiedenen Sinnfeldern: in diesem Text, in meinen Gedanken, auf meinem Schreibtisch – und jetzt auch in Ihren Gedanken, lieber Leserin.
Gabriel lehnt alle wissenschaftlichen Theorien ab, die den Anspruch auf Absolutheit erheben. Ob es sich um Nihilismus, Konstruktivismus, Naturwissenschaft oder religiösen Fundamentalismus handelt – Theorien, die den Anspruch auf die ultimative Wahrheit erheben und die eine Weltformel kennen wollen, kommen an ihre Grenzen, da sie radikal nicht zu Ende gedacht werden können. Keine Erkenntnistheorie kann die Welt umfassend erklären, denn erkenntnistheoretisch betrachtet existiert die Welt gar nicht. Vereinfacht gesagt, gibt es nur Sinnfelder, in denen Gegenstände auftauchen, wie meine Teetasse in den oben beschriebenen Sinnfeldern. Die Welt müsste dann das Sinnfeld sein, das alle anderen Sinnfelder umfasst. Aber dieses “Welt-Sinnfeld” müsste auch sich selbst als Teilmenge enthalten, und das ist logisch unmöglich. Daher existiert die Welt nicht.
Aber es gibt noch vieles anderes. Zum Beispiel Gott und Religion. Gabriel entlarvt den Neoatheismus als absurd und zeigt auf, dass er selbst eine fundamentalistische Denkweise ist. Wenn er jeden Fundamentalismus zu Recht kritisiert, dann müsste der Neoatheismus sich selbst abschaffen.
Es gibt Sinnfelder, in denen es Sinn macht, von Gott zu sprechen. Die Sphäre der Religion kann als Zusammenhang von Sinnfeldern sinnvoll beschrieben werden. Es gibt Gott zumindest in einigen Sinnfeldern. Das bedeutet zunächst nichts anderes, als dass es Gott auf die gleiche Weise gibt wie zum Beispiel Hexen oder Hobbits. Erstere existieren im Sinnfeld von Hänsel und Gretel, letztere in allen Sinnfeldern (Buch, Film, Merchandising usw.) von Der Herr der Ringe. Es ist jedoch ausgeschlossen, dass mir Hexen oder Hobbits auf den Straßen von Hannover begegnen, was im Hinblick auf Gott nicht ausgeschlossen werden kann.
Gabriel beweist nicht Gott, aber er zeigt, dass es keinen Verstoß gegen erkenntnistheoretische oder wissenschaftliche Prinzipien darstellt, wenn von Gott gesprochen wird. Ein kleines Manko besteht jedoch darin, dass Gabriel seinen Pragmatismus, den er “Neuer Realismus” nennt, gelegentlich selbst als absolut darstellt. Dies wird besonders in der Auseinandersetzung mit dem Konstruktivismus deutlich. Wie Gabriel zeigt, führt der Konstruktivismus sich am Ende selbst ad absurdum. Wenn alles konstruiert ist, dann ist auch diese Tatsache nur eine Konstruktion, die zusammenbricht. Gabriel kann jedoch nicht leugnen, dass Menschen ihre Umwelt konstruieren. Es ist zwar befriedigend, die Teetasse einfach als Teetasse zu betrachten und nicht anzunehmen, dass ich sie nur konstruiert habe und nicht über sie kommunizieren kann. Dennoch bleibt festzuhalten, dass andere Dinge individuell konstruiert werden. In der Religionspädagogik ist es wichtig anzuerkennen, dass Menschen in Glaubensfragen, wie zum Beispiel ihrem Gottesbild, immer individuelle Konstruktionen bilden. Hier hätte ich mir gelegentlich etwas mehr Offenheit gewünscht, dass auch der Konstruktivismus und übrigens auch der Atheismus in manchen Diskursen sinnvoll sind, genau wie Gabriel den Naturwissenschaften ihren sinnvollen Bereich zugesteht.
Trotzdem bietet das Buch anregende und vergnügliche Lektüre. Der Autor schreibt unterhaltsam und bewahrt dabei stets eine gewisse Tiefe. Der Philosoph weiß, wovon er spricht. Nach der Lektüre wissen die Leser*innen, warum es die Welt nicht gibt und warum das auch gut so ist. Gut, dass ich dem Buch eine zweite Chance gegeben habe. Sonst hätte ich viel verpasst.
- Andreas Behr