Warum Europa eine Republik werden muss

Warum Europa eine Republik werden muss

Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot wagt etwas, was in der aktuellen Politikwissenschaft Seltenheitswert hat: Sie legt eine Utopie vor zur Frage, wie ein geeintes Europa gestaltet werden muss, um auch in Zukunft ein lebenswerter Ort zu bleiben. Tatsächlich sind die von ihr geforderten Maßnahmen radikal und eine konkrete Umsetzung in näherer Zukunft kaum zu erwarten, was dem Untertitel “Eine politische Utopie” Rechnung trägt: Es geht um nicht weniger als das Ende des Nationalstaates und ein demokratisches Europa, welches auf der politischen und sozialen Gleichheit aller BürgerInnen aufbaut und in welchem nicht mehr Staaten, sondern Regionen und Metropolen die entscheidenden AkteurInnen sind. Sogar ein Datum für die Ausrufung dieser postnationalen “europäischen Republik” legt die Autorin vor: Es ist der 9. Mai 2045, der 100. Jahrestag zum Ende des 2. Weltkriegs.

Europäische Utopie

Die “politische Utopie” Guérots ist zunächst eine kritische bis düstere Diagnose europäischer Unzulänglichkeiten. Zwar gebe es den Binnenmarkt und eine gemeinsame Währung, aber der politische Unterbau für ein gemeinsames Europa fehle, und damit eine europäische Demokratie. Das Festhalten an der Nation in der EU unterminiere ein wahrlich vereinigtes Europa und führe geradewegs in verschiedenste Krisen: “Die derzeitigen, gleichsam angehäuften Krisen – Eurokrise, drohender Grexit, drohender Brexit, Flüchtlinge – sind daher nur der konjunkturelle Ausdruck von tief liegenden strukturellen Mängeln, die ihren Grund in der Verfasstheit der EU haben. Sie zu beseitigen ist die EU nicht in der Lage. Die daraus resultierenden politischen Phänomene Populismus und Nationalismus sind diesen Strukturproblemen geschuldet. Die EU produziert also die politische Krise, in der wir uns befinden, und wird zunehmend selbst zum Problem.”

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Der Weg zur europäischen Republik

Guérot konstatiert bei den Menschen in Europa den großen Wunsch nach Einigkeit, aber nicht in Form der EU. Vielmehr muss sich Europa demokratisieren, und vor allem Sozial- und Steuerpolitik vergemeinschaften. Ein Europa als Republik wird hierfür benötigt, was in letzter Konsequenz das Ende sowohl von EU als auch Nationalstaaten bedeutet. Als “europäische RePublik” bezeichnet Guérot ihren utopischen Staat; die spezifische Schreibweise betont die Wichtigkeit der öffentlichen Sache. Im Zentrum steht das Bürgerwohl, geschützt durch eine “Gleichfreiheit”: ein gesellschaftspolitisches Konzept, wo die Gleichheit auf Augenhöhe mit der Freiheit steht im Sinne von Chancengerechtigkeit, Bildung und Ermöglichung politischer Partizipation anstelle eines neoliberal pervertierten Freiheitsbegriffs. Intransparente Interessendurchsetzung und politische Entscheidungen als Eliten-Projekt sind dann nicht mehr möglich, denn alle politischen AkteurInnen sind an den politischen Willen der Bevölkerung gebunden. Dazu ist eine europäische Staatsbürgerschaft für alle vonnöten, die sich auf europäischem Boden befinden – Flüchtlinge inkludiert.

Das neue Europa wird laut Guérot “postnational” sein. Als politischen Überbau sieht die Autorin ein direkt gewähltes Oberhaupt vor, ein europäisches Abgeordnetenhaus mit allen parlamentarischen Rechten inklusive europäischer Parteien, sowie eine 2. Kammer – einen europäischen Senat, der von autonomen europäischen Provinzen beschickt wird. Diese Provinzen sind der Unterbau der europäischen RePublik. Sie lösen die Nationalstaaten ab und bestehen aus Europas alten Kulturregionen bzw. Metropolen, die lange vor den Nationen existiert haben und einen wichtigen Identitätsrahmen bilden. Diese Regionen werden demokratisch regiert und bilden ein Netzwerk loser Kooperationen unter europäischem Dach.

Visionäre Zukunft

Wer soll diese gigantischen Aufgaben bewältigen? Guérot setzt auf Frauen und auf Jugendliche – erstere, weil sie Europas Krise auch als Krise einer Form von Männlichkeit sieht, die ein Auslaufmodell ist. Ein wahrhaftes, vereintes Europa wird vor allem von einer männlich dominierten Machtelite jenseits der 60 zur Unmöglichkeit erklärt. Bei der Jugend sieht die Autorin sowohl eine Generation neuer EuropäerInnen heranwachsen, die selbstverständlich transnational denken und handeln, grenzüberschreitende Beziehungen aller Art eingehen, und vertraut mit neuen Werkzeugen für Partizipation sind – als auch eine verlorene Jugend, die kein Konzept von Europa mehr hat, abgehängt in Peripherien sitzt und zunehmend ihr Heil in populistischen Bewegungen sucht. Das Wiederherstellen von Perspektiven und vor allem die Einbeziehung von jungen Menschen in den politischen Prozess jenseits von Wahlen ist daher essenziell. Schlussendlich verweist Guérot darauf, dass die europäische RePublik ein Leuchtturm in der Welt sein könnte – als Avantgarde-Projekt für ein Weltbürgertum und die Überwindung des Nationalstaats weltweit. Wichtig ist, dass Europa immer ein Ort für Alternativen bleibt: “Alternativlosigkeit heißt Gefängnis, Diktatur des Bestehenden und mithin Unfreiheit, allen voran die Unfreiheit des Denkens und des Geistes.”

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Guérots Verdienst ist es, die Utopie eines völlig neuen Europas überhaupt zur Debatte zu stellen – in einer Zeit der proklamierten Alternativlosigkeit und damit einhergehenden Utopielosigkeit. Das Werk baut somit auf die Kraft von Ideen, auch wenn Guérot selbst einräumt, dass die Umsetzung ihrer Ideen tatsächlich utopisch ist. Vieles bleibt vage, etwa wie direkte Demokratie konkret gestaltet werden soll, wer den Nationalstaat mit welchen Mitteln abschaffen soll, wer über die Gestaltung der Regionen entscheiden soll – die damit einhergehenden äußerst wahrscheinlichen Konflikte werden nicht weiter thematisiert. Das Buch bringt eine Reihe von innovativen Ideen auf das “Gesamtwerk Europa” ein, etwa die Einführung von Yoga in Schulen, welches neue Perspektiven ermöglichen soll. Hinzu kommt die harsche Darstellung der heutigen EU als undemokratischen Hort wirtschaftlicher Knechtung der sozial Schwachen. Ob diese Diagnose nicht auch mit überzogenen Erwartungshaltungen zu tun hat, wird in der nächsten Rezension thematisiert.