Was wir an ICQ, Knuddels und MySpace vermissen

Was wir an ICQ, Knuddels und MySpace vermissen

Als das Modem beim Einwählen ins Internet noch piepste, war der Umgang mit sozialen Netzwerken und Chatplattformen verspielter. Auch damals waren wie bei Facebook und Instagram viele virtuelle Freunde und das Profilbild schon wichtig – es musste aber nicht perfekt sein. Über offene Chaträume kam man viel unkomplizierter mit Fremden ins Gespräch – und lernte dabei, dass die Handynummer und besoffene Partybilder nichts im Netz zu suchen haben.

Wir waren die Ersten, die nicht nur Mails schrieben, sondern auch Urlaubsfotos und Liebeserklärungen öffentlich teilten. Dass das peinlich werden konnte, mussten wir erst herausfinden. Andererseits hatten wir im Web einen Ort, über den Eltern keine Kontrolle hatten – außer, sie stöpselten das Modem aus.

Für Dorfkinder waren Knuddels und Co. wie ein Tor zur Welt. Wenn der letzte Bus um 16 Uhr gen Heimat fuhr, konnte man virtuell die unterschiedlichsten Menschen treffen – und das gleichzeitig. Bei ICQ sieben Gespräche simultan führen – kein Problem. Wir haben nie einen Schreibmaschinenkurs gebraucht und lernten Multitasking.

Trotzdem war es entspannter, als wir das Internet noch nicht in der Hosentasche mit uns herumtrugen. Denn niemand hat erwartet, dass man den ganzen Tag vor dem Röhrenmonitor hockt. Sofort zurückschreiben zu müssen war noch kein Thema. Das ist heute anders. Chatten ist kein witziges Hobby mehr, sondern Alltag – und manchmal ganz schön anstrengend.

SchülerVZ – Gruppengruscheln

Wenn ich heute die grau-pinke SchülerVZ-Blume sehe, fühle ich mich, als sei ich wieder 13 Jahre alt. Jeden Nachmittag nach der Schule hat mich damals beim Aufrufen des Netzwerks die Frage erwartet: „Bist du schon drin?“ Und jeden Tag war ich gespannt, wer von meinen Freunden im „Plauderkasten“ online sein würde oder ob mein heimlicher Schwarm mich „gegruschelt“, also virtuell gegrüßt und gekuschelt, hatte.

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SchülerVZ wurde 2007 gegründet, und zu Hochzeiten sollen fast fünf Millionen User angemeldet gewesen sein. Ich fühlte mich trotzdem exklusiv. Denn um sich anmelden zu können, musste man von registrierten Freunden eingeladen werden. Für mich bedeutete das ein Umfeld ohne Lehrer und Eltern – und eine Möglichkeit, mich darzustellen.

Ich lud ein peinliches Foto hoch und füllte, wie bei einem virtuellen Freundebuch, die Felder: „Was ich mag“ und „Lieblingsspruch“ aus. Und ich trat Gruppen bei, die Namen trugen wie „Ich ziehe an Türen, auf denen dick und fett drücken steht“ – einfach nur, um die mehr oder weniger lustigen Gruppentitel unter meinem Profil aufzulisten. Im Nachhinein ist es wohl ganz gut, dass heute von dieser Zeit im Netz nichts mehr zu finden ist: Denn im April 2013 verabschiedete sich das Netzwerk von seinen nun nur noch 200 000 Usern mit den Worten „Wir machen’s kurz: Es ist vorbei“.

Knuddels – Sex statt Schnacken

Auf Knuddels.de begrüßt mich ein alter Bekannter: der Butler James, ein Chatbot. Er hilft mir beim Registrieren. Als Jugendliche habe ich viele Stunden auf der fliederfarbenen Website mit Fremden geschrieben und virtuell Billard gespielt. Mit einem meiner damaligen Chatfreunde bin ich immer noch auf Facebook vernetzt.

Mittlerweile hat die Plattform den Ruf, eine Mischung aus Partnerbörse und Sexchat zu sein. Nach nur fünf Minuten merke ich: zu Recht. Obwohl ich kein Profilbild hochgeladen habe, schreiben mir zahlreiche Männer. Sie wollen wissen, ob ich „Lust auf etwas Intimes“ habe. Gruselig. Was ist aus meinem sympathischen Chatraum aus Teenager-Zeiten geworden?

Auch damals gab es Typen, die Cybersex wollten – aber weitaus seltener. Es hat einfach Spaß gemacht, mit völlig Fremden über die Schule zu nörgeln oder Musiktipps auszutauschen. Immerhin: Auch im Jahr 2016 führe ich einen netten Chat mit jemandem, der einfach quatschen will. Wir schreiben über Pokémon, lästern über vegetarischen Wurstaufschnitt – und ich weiß wieder, warum ich Knuddels einmal sehr gern genutzt habe.

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Chatroulette – Leider eklig

Es sind 2476 User online, verrät mir der Eingangschat bei Chatroulette. 2010 waren es etwa zehnmal so viele, die hier abends zum Webcam-Chat bereitstanden. Mit 15 Jahren war ich einer dieser User. „Lass dich nicht von Fremden ansprechen“, sagte meine Mutter immer. In der neu entdeckten virtuellen Welt wollte ich davon nichts wissen.

Per Zufallsauswahl wurde mir ein beliebiger Chatpartner zugelost, gefiel er mir nicht, wurde er weggedrückt und es erschien der nächste. Über Webcam und Chat unterhielt ich mich mit fremden Menschen aus der ganzen Welt. Anders als bei Facebook, Instagram oder Datingportalen konnte man die Informationen über den Chatpartner nur über den Austausch im Chat einholen – ein fest angelegtes Profil gab es nicht. Auch das von vielen ignorierte Mindestalter lag bei Chatroulette mit 18 Jahren wesentlich höher als bei den üblichen Social-Media-Seiten von heute.

Das hatte damals und hat auch heute noch gute Gründe, wie ich jetzt wieder feststellen muss. Gleich mein erster Chatpartner präsentiert sich vom Bauch abwärts nackt und hält sein Genital gut sichtbar vor seine Webcam. Während ich krampfhaft versuche, dieses Bild aus meinen Gedanken zu verbannen, ist mir auch der „Next-Button“ keine große Hilfe. Jeder dritte Chatpartner ist nackt oder möchte etwas über meine sexuellen Vorlieben wissen. Es ist abstoßend und erinnert mich daran, warum Chatroulette seinen Reiz damals sehr schnell verloren hat.

ICQ – Ahhh-Ohhh

„Kommst du nach der Schule on?“ Das war in meiner Schulzeit eine der wichtigsten Fragen, die es tagtäglich zu beantworten galt. So ging es direkt nach dem Mittagessen an den Computer. Die grüne ICQ-Blume war fest in meiner Taskleiste und in meinem Leben integriert. Wenn das typische „Ah-Oh“-Geräusch erklang, galt meine volle Aufmerksamkeit dem Computer.

Heute habe ich Whatsapp und Facebook auf dem Handy. ICQ brauche ich da nicht mehr. Passend zum 20. Geburtstag des Messengers habe ich mich trotzdem noch einmal angemeldet. Meine ICQ-Nummer kenne ich tatsächlich immer noch auswendig – die war damals eben überlebenswichtig.

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Wenig überraschend ist keiner meiner etwa 150 Kontakte online. Und überhaupt sieht ICQ nicht mehr aus wie früher, sondern eher wie die kleine Schwester von Whatsapp. Gleiches Design, gleiche Emojis.

Es kommt dann doch einer meiner Kontakte online. Ich frage, warum er die App noch nutzt. „Vor ein paar Wochen habe ich mit Freunden über die Spiele, die man hier immer machen konnte, geredet. Die wollten wir dann mal wieder ausprobieren“, schreibt er. Da hat er die App wohl umsonst installiert. Die kultigen Spiele, wie Zoopaloola und Slide-a-Lama, gibt es nicht mehr. Das neue ICQ hat mit dem coolen Chatportal aus meiner Jugend fast nichts mehr zu tun.

MySpace – Einmal schämen, bitte!

Ein einziger Blick genügt. Mehr brauche ich nicht, dann öffne ich schnell einen neuen Tab – nur um den gruseligen Bildern zu entgehen.

Ich habe mich tatsächlich noch immer in meinen verwaisten MySpace-Account einloggen können. Meine Spam-Mail-Adresse ist noch immer die gleiche wie in meinen Teenager-Zeiten. Also lasse ich mir ein neues Passwort an diese Adresse schicken – und dann mal gucken, was ich damals auf dem Facebook-Vorgänger so getrieben habe. Es war nichts Gutes. Mein 17-jähriges Ich blickt mir mit wilder Lockenpracht und pubertärem Gesicht entgegen. Wenn mich noch einmal jemand fragt, warum ich kaum Bilder in soziale Netzwerke stelle – ich werde mit meinem MySpace-Account argumentieren.

Spannend ist es dann aber schon, wie meine US-Highschool-Kumpels aussahen und wen ich als meine Top-8-Freunde eingestellt hatte. Diese Funktion gibt es tatsächlich, und ich weiß noch, zu wie viel Mobbing sie auf dem Schulhof geführt hat. Als das Musiker-Netzwerk, das MySpace heute ist, habe ich die Seite nie benutzt – und das werde ich auch nicht mehr tun. Meinen Account habe ich gelöscht. Es war höchste Zeit.