Kinder und Jugendliche zeigen zunehmend Leistungsschwächen, fehlende Sozialkompetenz und eine immense Anspruchshaltung. Lehrer und Erzieher fordern mehr Grenzen für diese Kinder. Doch der Bonner Kinderpsychiater Michael Winterhoff argumentiert, dass das alleine nicht ausreicht. Seiner Meinung nach dürfen Kinder heutzutage einfach nicht mehr Kinder sein. Diese These hat Winterhoff in seinem Buch “Warum unsere Kinder Tyrannen werden oder: Die Abschaffung der Kindheit” zusammengefasst, das mittlerweile ein Bestseller ist.
Die Veränderung des Kinder- und Jugendverhaltens
Winterhoff beobachtet seit vielen Jahren eine gravierende Veränderung des Verhaltens von Kindern und Jugendlichen. Früher gab es in einer Schulklasse vielleicht zwei oder drei auffällige Kinder, heute sind es oft dreimal so viele. Diese Kinder haben meistens die gleiche Störung: Sie sind Narzissten mit dem Entwicklungsstand eines Eineinhalbjährigen. Dies bedeutet, dass das Kind in erster Linie lustorientiert handelt und sein Umfeld kontrolliert. Ein Jugendlicher mit einer solchen Psyche ist nicht in der Lage, sich in den Arbeitsalltag zu integrieren. Dies ist besonders alarmierend, da diese Generation einmal die Verantwortung übernehmen soll.
Die Ausprägung des Narzissmus
Ein typisches Merkmal narzisstischer Kinder ist, dass sie sich nicht auf andere Menschen einstellen können. Dies zeigt sich bereits, wenn Winterhoff das Wartezimmer betritt und der zehnjährige Patient nicht einmal grüßt. Im Praxiszimmer setzt sich das Kind bewusst auf den Stuhl rechts von Winterhoffs Schreibtisch, obwohl ihm der linke angeboten wird. Lehrer berichten, dass diese Kinder ihre Arbeitsanweisungen nicht ausführen.
Fehlende Reifeentwicklung und Erziehung
Es handelt sich hierbei nicht um eine Frage der Erziehung, sondern um eine fehlende psychische Entwicklung. Winterhoff behauptet, dass diese Kinder trotz Erziehung keine neurobiologische Entwicklung durchlaufen. Dies führt dazu, dass sie nicht zu alltagstauglichen Erwachsenen heranreifen, die Frustrationstoleranz und soziale Kompetenz besitzen.
Die Rolle der Individualität und Autorität
Winterhoff betont, dass die Individualität sich nur ab einem bestimmten Entwicklungsstand entfalten kann. Ein dreijähriges Kind besitzt noch keine Persönlichkeit und kann erst unter Führung eine entwickeln. Deshalb sind Schulen mit individuellem Förderansatz für narzisstische Kinder überfordernd.
Die Ursachen der fehlenden Reifeentwicklung
Die Ursache für die fehlende Reifeentwicklung vieler Kinder liegt darin, dass sich viele Erwachsene in Beziehungsstörungen zu ihren Kindern befinden. Sie nehmen ihr Kind nicht mehr als Kind wahr und lassen es in die Rolle des Erwachsenen schlüpfen. Dies führt dazu, dass die Kinder die Kontrolle übernehmen und die Erwachsenen von ihnen gesteuert werden.
Der Einfluss des Wohlstands
Der zunehmende Wohlstand und die Wahlmöglichkeiten in unserer Gesellschaft verunsichern viele Eltern. Sie kompensieren ihre Orientierungslosigkeit unbewusst über ihre Kinder. Das Kinderglück soll dem Leben Sinn geben und Eltern tun alles, um von ihren Kindern gelobt zu werden. Dadurch werden die Machtverhältnisse innerhalb der Familie umgekehrt und die Kinder in die Rolle der Eltern gedrängt.
Die Auswirkungen auf Kindergärten und Schulen
Die Reformen in Kindergärten und Schulen widersprechen den neurologischen Erkenntnissen. Selbständiges Arbeiten entwickelt sich erst später in der Entwicklung. Die fehlenden schulischen Leistungen und die zunehmende Suchtgefahr sind Symptome der fehlenden Reifeentwicklung.
Die Bildung der kindlichen Psyche
Die psychischen Funktionen wie Arbeitshaltung und Frustrationstoleranz müssen wie das Lesen und Rechnen von Nervenzellen ausgeführt werden. Diese Funktionen müssen regelmäßig trainiert werden, damit sie sich entwickeln und automatisieren können.
Die Rolle der Eltern und Erzieher
Winterhoff betont, dass eine gesunde Reifeentwicklung des Kindes die Grundlage für pädagogische und sozialpolitische Reformen ist. Eltern und Erzieher sollten sich bewusst werden, ob sie sich in einer Beziehungsstörung befinden, denn Kinder haben nur dann eine Chance auf eine gesunde Entwicklung, wenn sie als Kinder wahrgenommen werden.
