Die Offensive der Ukraine in Richtung Osten zeigt Erfolge, aber wie lange kann sie weiter vorstoßen? Militärexperte Nico Lange erklärt, dass die Ukraine nun die ersten Verteidigungslinien durchbrochen hat und weitere Gebiete einnehmen kann. Doch der entscheidende Faktor für ihren Erfolg wird die Anzahl der verbleibenden Reserven sein.
Die Entwicklung der Offensive
In den ersten Wochen der Gegenoffensive hatten die ukrainischen Streitkräfte Schwierigkeiten, da die russische Verteidigungsstrategie sehr wirksam war. Doch in den letzten vier Wochen haben die Ukrainer wichtige Wegmarken erobert und die erste und teilweise auch die zweite Verteidigungslinie durchbrochen. Dies stellt Russland vor ein Dilemma: Wo sollen sie jetzt Verstärkung einbringen? Es scheint, dass die zweite und dritte Verteidigungslinie nicht so stark besetzt sind und Russland nicht genug Zeit hat, sie auszubauen und zu besetzen.
Im südlichen Territorium der Ukraine sind die ersten 20 bis 25 Kilometer mit Verteidigungsstellungen besetzt. Danach erstreckt sich offenes Gelände. Wenn die Ukraine es schafft, diese Verteidigungslinie zu durchbrechen, könnte es zu einem Bewegungskrieg kommen. Die entscheidende Frage wird dann sein: Wie viele Reserven hat die Ukraine dann noch, um aus diesen Durchbrüchen etwas zu machen?
Das eigentliche Ziel der Offensive
Obwohl oft behauptet wurde, dass das Ziel der Ukraine sei, den Landweg zur Krim abzuschneiden, ist dies nach Aussage von Nico Lange nicht wirklich notwendig. Stattdessen könnte es entscheidend sein, wie weit die Ukraine im Süden vorstoßen kann, um die russische Versorgung zu unterbrechen. Die Ukraine könnte auch die Krim-Brücken beschädigen oder durchtrennen, was die Lage auf der Krim und im Süden für Russland prekär machen würde.
Die Sorge um die ukrainischen Soldaten
Die Anzahl der verbliebenen ukrainischen Soldaten ist ein Grund zur Sorge. Die Ukraine hält geheim, welche Reserven sie noch hat, aber dies ist ein entscheidender Faktor für die weitere Offensive. Die Anfangsphase einer Offensive in offenem Gelände ist sehr verlustreich, da man gezwungen ist, gegen einen Gegner anzugreifen, der bei Artillerie und Luftüberlegenheit stark ist. Die Ukraine ist darin besser als Russland, ihre Soldaten zu retten, aber viele Soldaten erleiden trotzdem schwere Verletzungen oder Traumata. Die Ukraine wird daher wahrscheinlich eine weitere Mobilmachung benötigen.
Die Rolle der NATO-Staaten
Die ukrainischen Streitkräfte kämpfen anders als das, was in den NATO-Staaten gelehrt wird. Sie verlassen sich stark auf ihre eigene Kriegserfahrung seit 2014. Die NATO-Streitkräfte haben jedoch viel von den Ukrainern gelernt. Es gibt viele neue Elemente in diesem Krieg, bei denen die Ukrainer den NATO-Staaten etwas beibringen können.
Entscheidungen in den kommenden Wochen
In den nächsten Wochen wird sich vieles entscheiden. Die Ukraine wird die Verteidigungsstellungen durchbrechen, aber der Erfolg der weiteren Offensive wird von den verbleibenden Reserven abhängen. Es wird sich auch entscheiden, wie stark die russische Logistik eingeschränkt sein wird und wie Russland in der Lage sein wird, Entlastungsangriffe oder neue Angriffe an anderer Stelle in der Ukraine durchzuführen. Diese Parameter werden den Kriegsverlauf in den kommenden Wochen und Monaten entscheidend beeinflussen.
NDR interviewed Militärexperte Nico Lange for this report. The article has been written and redacted by Anna Engelke, NDR.