Wir alle haben schon einmal gehört, dass wir nur 10% unseres Gehirns nutzen. Die Vorstellung, dass wir unser geistiges Potenzial steigern könnten, wenn wir diese 10% auf 50% erhöhen würden, ist verführerisch. Aber die Wahrheit ist: Dies ist alles ein großer Mythos!
Im Film “Lucy” spielte Scarlett Johansson eine Superheldin, deren geistige Fähigkeiten durch eine künstliche Substanz verstärkt wurden. Dies basiert auf der Annahme, dass wir nur einen kleinen Teil unseres Gehirns nutzen und der Großteil unserer mentalen Kapazitäten ungenutzt bleibt. In der Öffentlichkeit wird oft behauptet, dass wir lediglich 10% unseres Gehirns nutzen und die restlichen 90% nutzlos sind.
Energiesparwunder Gehirn
Wie viel Prozent unserer Gehirnkapazität nutzen wir wirklich? Es ist ein weit verbreiteter Mythos, dass wir nur 10 oder 20 Prozent unseres Gehirns nutzen. In Wahrheit nutzen wir die volle Kapazität unseres gesunden Gehirns. Allerdings geschieht dies nicht gleichzeitig. Unser Gehirn beansprucht etwa 20% unserer Energie, obwohl es nur etwa 2% unserer Körpermasse ausmacht [1]. Untersuchungen haben gezeigt, dass es keine inaktiven Bereiche im Gehirn gibt und Nervenzellen bei gesunden Menschen nicht dauerhaft ruhen.
Aber wie ist dieser Mythos entstanden? Die bildgebenden Verfahren wie fMRT und PET tragen zu dieser Annahme bei, da sie zeigen, dass zu jedem Zeitpunkt nur kleine Teile des Gehirns aktiv sind. Doch bedeutet das wirklich, dass wir nur einen kleinen Teil unseres Gehirns nutzen?
Mitnichten! Um dies zu verstehen, müssen wir uns genauer mit der Funktionsweise unseres Gehirns auseinandersetzen.
Die Evolution der Intelligenz
Es gibt keinen plausiblen Grund, warum unser Körper im Laufe der Evolution die überflüssigen Hirnbereiche nicht einfach hätte zurückbilden sollen, angesichts des hohen Energiebedarfs unseres Gehirns, selbst im Ruhezustand. Dies hätte viele Menschen vor Hunger retten können.
Neuroplastizität hält unser Gehirn aktiv
Ein weiterer Grund für die hartnäckige Verbreitung dieses Mythos ist die Beobachtung, dass Menschen nach Schädigungen bestimmter Gehirnbereiche oft keine offensichtlichen Defizite zeigen. Zwar gibt es einige erstaunliche Beispiele, bei denen Patienten nach Hirnschädigungen kaum Defizite zeigen, aber in der Regel beziehen sich die Defizite nicht auf einen spezifischen Aspekt wie das Gedächtnis, sondern auf exekutive und integrative Funktionen, die für viele wichtige Funktionen verantwortlich sind.
Dies zeigt die sogenannte Neuroplastizität, also die Fähigkeit unseres Gehirns, sich den Anforderungen anzupassen. Es wurde beispielsweise festgestellt, dass sich die Hirnstruktur von blinden Menschen verändert. Bereiche, die ehemals für die visuelle Verarbeitung zuständig waren, übernehmen neue Funktionen [2]. Unser Gehirn ist also keine starre Masse, sondern äußerst flexibel und reagiert auf seine Umwelt.
Der große amerikanische Psychologe William James trug ebenfalls zu diesem Mythos bei, als er sagte: “Die meisten Menschen erreichen nicht ihr volles geistiges Potenzial.” Damit meinte er jedoch nicht einen bestimmten Anteil des ungenutzten Gehirns, sondern dass viele Menschen geistig träge sind. Seit 120 Jahren geistert diese Vorstellung von brachliegenden kognitiven Fähigkeiten in unseren Köpfen herum.
Quellen:
1: Rolfe DFS & Brown GC. (1997) Cellular energy utilization and molecular origin of standard metabolic rate in mammals. Physiological Review, 77: 731−758.
2: Burton, H. (2003). Visual Cortex Activity in Early and Late Blind People. The Journal of Neuroscience, 23(10), 4005-4011.