Ein viertel Jahr nach der Beerdigung eines hoch engagierten Lehrers mache ich mit seiner Witwe einen Friedhofsgang. Vor dem gepflegten Grab stellt sie sich vor, wie das zukünftige Grabmal aussehen wird. Plötzlich stellt sie die Frage: “Sieht er uns jetzt, wie wir hier stehen?” Ein anderer trauert um seine verbrannte Frau und fragt sich, wie Auferstehung praktisch möglich sein soll, wenn so viele Verstorbene verbrannt werden. Für ihn ist es schwer vorstellbar, dass ihre Überreste in der Urne liegen.
Kein Friedhofsgang lässt uns diese Fragen ersparen. Aber gibt es eine Antwort? Sind unsere Toten vernichtet? Sind sie “ganz tot”, wie manche im Protestantismus behaupten? Oder leben sie in einer unsterblichen Seele, wie es die katholische Kirche und auch Johannes Calvin lehren? Oder sind sie bereits auferstanden? Und können sie uns sehen? Wie könnte man sich das vorstellen: vollständig tot, vernichtet und zerstört? Oder auferstanden im Tod? Oder eine Seele ohne Körper, ein Mensch, der im Tod halbiert ist, mit einem sterblichen Körper und einer unsterblichen Seele?
Die Bibel sagt, nur Gott allein ist unsterblich, denn nur er allein ist gut. Daher ist die Lehre von der unsterblichen Seele, die das Gute im Menschen verkörpert, problematisch. Der unsterbliche, gute Gott jedoch denkt in seiner Güte an die sterblichen Menschen. Und er tut dies durch seine Liebe und Barmherzigkeit, die er in Jesus Christus offenbart hat, und die niemanden verloren gibt. Und weil er so an sie denkt, geht der sterbliche Mensch auch in seinem Tod nicht verloren, er erlischt nicht einfach wie das ausgeblasene Licht. Er bleibt vor Gott und in der Barmherzigkeit Gottes, im Gegenüber zu ihm. Und wer von Gott Barmherzigkeit erfährt, der ist nicht dahin.
Als sterbliche Menschen bleiben wir in der unsterblichen und unvergänglichen Gemeinschaft mit Gott. Da ist unser irdisches Leben. Aber die Beziehung Gottes zu uns, sein Erbarmen und seine Liebe zu uns, unser durch Christus gerettetes Leben – das ist nicht dahin, weil genau dieser Gott nicht dahin ist. Ein Verstorbener kann daher nicht als vollständig leibloser Geist gedacht werden, als völlig ungeschichtlich, als völlig fern von jeglicher Materie. Auch wenn wir ihm nicht die Körperlichkeit des irdischen Daseins und dessen Vergänglichkeit zuschreiben können und er noch nicht die verheißene Leiblichkeit der Auferstehung erreicht hat.
“Wo sind die Toten?” fragen wir. Sie sind heimgekehrt zu Gott. “Können wir mit ihnen verbunden bleiben?” Ihr könnt mit Gott verbunden bleiben, bei dem sie sind. “Können sie uns sehen?” Das glaube ich nicht. Aber ich glaube, dass die Toten mit Christus in Gott verborgen sind, genauso wie die Lebenden. Unser noch gelebtes Leben und das gestorbene Leben der Toten sind bereits jetzt “mit Christus in Gott” aufgehoben und bewahrt. Daher bleiben die Lebenden und die Toten in ihm verbunden, auch wenn wir uns nicht mehr sehen können. Aus diesem Grund kann der gekreuzigte Christus zum Schächer sagen: “Heute wirst du mit mir im Paradies sein.” Das gilt auch für die Toten, deren Körper verbrannt wurden.
Gewiss ist, dass die Toten nicht verloren sind. Aber sie sind auch noch nicht endgültig gerettet. Denn die Auferstehung der Toten, ihre umfassende Verwandlung von Körper und Seele und die versprochene Erneuerung von Himmel und Erde ist noch nicht geschehen. Die neue Schöpfung, der neue Himmel und die neue Erde sind noch nicht da, obwohl sie in Christus bereits unwiderruflich versprochen und gegenwärtig sind. Daher steht die endgültige Rettung und Heimholung der Toten, die Rettung und Heimholung von uns allen, noch aus.
Aber wie können wir uns vorstellen, dass die Toten “mit Christus in Gott verborgen” sind und dass sie – wie wir – auf die endgültige Rettung warten? Wir können weiter fragen und bemerken, dass wir hier an die Grenze des Sagbaren kommen. In der Bibel wird vom “Zwischenzustand” zwischen Tod und Auferstehung gesprochen: vom “Paradies” oder von “Abrahams Schoß”. Anders als in Bildern können wir es nicht erklären. Denn keiner von uns war bisher auf jener anderen Seite, bei Gott.
Ich finde es hilfreich, wie der Theologe Jürgen Moltmann ausgedrückt hat, wenn er von dem “Raum” spricht, in dem die Toten “mit Christus in Gott” sind. Er stellt sich diesen “Zwischenzustand” als einen weiten Lebensraum vor, in dem die Geschichte Gottes mit einem Menschen zur Entwicklung und Vollendung kommt. Er stellt sich vor, dass wir uns der Quelle des Lebens nähern können, aus der wir hier bereits Lebenskraft und Lebensbejahung schöpfen konnten. So können auch die Behinderten und Zerstörten das Leben leben, das ihnen bestimmt war, das Leben, das ihnen (im Tod) genommen wurde. Die Toten sind und bleiben also mit uns, die wir noch hier leben, in der gleichen Glaubens- und Hoffnungsgemeinschaft geborgen. Gemeinsam sind wir auf dem Weg in die endgültige Zukunft Gottes, die mit der zukünftigen “Auferstehung der Toten” beginnen wird und niemals endet.