Wo sind nur die ganzen Arbeitskräfte hin?

Wo sind nur die ganzen Arbeitskräfte hin?

Chaos an den Flughäfen, geschlossene Restaurants: Arbeitgeber können ihre offenen Stellen oft nicht mehr besetzen. Das lässt auch Experten rätseln.

Vincent Vega kommt im Tarantino-Klassiker “Pulp Fiction” in die Wohnung von Mia Wallace und schaut sich verdutzt um. Die Arme: Hilfesuchend ausgebreitet. Der Blick: maximal irritiert. Die Szene ist mittlerweile eines der bekanntesten Memes und illustriert das große Problem der hiesigen Wirtschaft: Wo sind nur all die Arbeitskräfte abgeblieben?

Was im Kino witzig war, ist für Arbeitgeber ein großes Problem. In Bayern wurde das “Puls”-Festival abgebrochen, weil Sicherheitsleute fehlen. Der Europapark muss die Besucherzahl deckeln und hat gerade 128 Jobs ausgeschrieben, viele davon in Festanstellung. Die Flughäfen in NRW brechen unter der Reiselast zusammen. Landauf, landab, fehlt Personal. Ein Status Quo, der die gesamte Wirtschaft verändert.

Flughafen-Chaos, geschlossene Restaurants: “Es liegt nicht an den bösen Arbeitgebern”

Marcel Fratzscher treibt diese Entwicklung schon lange um. Er leitet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und ist Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin. “Es fehlt an allen Ecken und Enden – von hoch qualifizierten Jobs bis zum Tellerwäscher. Am heftigsten trifft es aktuell die Flughäfen und die Gastronomie”, sagt Fratzscher. Aber wo sind die Arbeitskräfte? “Dafür gibt es zwar Erklärungen, aber die überzeugen mich bisher nicht.”

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Enzo Weber sagt, er weiß die Antwort. Weber beobachtet den Arbeitsmarkt seit vielen Jahren sehr genau. Der Wirtschaftswissenschaftler vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung hat gerade eine Studie veröffentlicht. Die Erkenntnis: Es gebe keinen “Big Quit”, also eine groß angelegte Abwanderung von Arbeitskräften. Es liege auch nicht “an den bösen Arbeitgebern, die massenweise Leute kündigen”.

Ökonomen rätseln: Wo sind die Arbeitskräfte abgeblieben?

Was ist es dann? Dass die Mühsal der Pandemie den Leidensdruck vieler Arbeitnehmer erhöht hat, sich aufzuraffen, um sich in eine andere Branche wegzubewerben, wo das Gehalt besser ist und die Arbeitsbedingungen erträglicher – auch das finde sich nicht als Trend in den Zahlen, sagt Weber. Die Antwort sei wesentlich profaner. “Es wurde während der Pandemie zu wenig eingestellt”, erklärt er.

Fratzscher überzeugt das nicht. “Dann müsste die deutsche Wirtschaft boomen, das tut sie nicht. Wir erreichen gerade das Vor-Corona-Niveau. Es müssen Menschen dem Arbeitsmarkt den Rücken gekehrt haben.”

Corona, demografischer Wandel: Der Arbeitsmarkt steht vor großen Problemen

Im Warum sind die beiden Ökonomen sich also nicht einig, im Was dagegen schon. Es fehlen Arbeitskräfte, und zwar im ganz großen Stil. Dabei ist Pandemie der eine Grund. Neue Jobs sind entstanden, die es vorher überhaupt nicht gab. “Wer früher in der Pizzeria an der Ecke kellnerte, konnte plötzlich im Testzentrum arbeiten”, sagt Weber. Gleichzeitig hatten viele Restaurants lange geschlossen und auch an den Flughäfen brauchte man wenig Personal. Die Konsequenzen sind nun unübersehbar.

Im Schatten von Corona läuft zudem eine Entwicklung an, die nicht mehr aufzuhalten ist. Der demografische Wandel schlägt langsam aber sicher voll durch. “In zehn Jahren werden vier Millionen Menschen mehr in Rente gehen als Junge in den Arbeitsmarkt nachkommen. Bei insgesamt rund 40 Millionen Beschäftigen in Deutschland ist das ein harter Schlag”, prognostiziert Fratzscher.

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Einwanderung: “Bräuchten Migrationssaldo von 400.000 Zuwanderern”

Eine naheliegende Lösung: Neue Arbeitskräfte aus dem Ausland anwerben. Doch das ist leichter gesagt als getan. “Wenn man die Zahl der Arbeitsplätze in Deutschland erhalten will, bräuchte man jedes Jahr einen Migrationssaldo von 400.000 Zuwanderern”, rechnet Experte und Studienautor Enzo Weber vor. Nötig sei eine Reform des Zuwanderungsrechts, betont auch Fratzscher. So seien zum Beispiel die sprachlichen Anforderungen viel zu hoch. Auch in puncto Integration und der Anerkennung von Abschlüssen hapere es.

Dazu kommt noch eine zweite Hürde, die häufig vergessen werde. “Es ziehen auch Menschen aus Deutschland weg. Jeder zehnte Zuwanderer verlässt Deutschland wieder”, sagt Weber. Insofern sei ein Saldo von 400.000 unrealistisch.

Fratzschers Plan: Frauen stärker einbinden, Minijobs regulieren, höherer Mindestlohn

Für Fratzscher geht es nur mit tiefgreifenden Änderungen. “Das größte, nicht genutzte Potenzial im deutschen Arbeitsmarkt sind Frauen. Knapp die Hälfte der berufstätigen Frauen arbeiten in Teilzeit. Wir müssen das Ehegattensplitting abschaffen und Kita-Plätze ausbauen, wenn wir diesen Hebel nutzen möchten.” Andernfalls lohne es sich für Frauen schon rein steuerlich nicht, mehr Stunden zu arbeiten.

Über eine Million Minijobber haben ihre Arbeit verloren.

Fratzschers zweite Forderung lautet: Minijobs regulieren. Solche Anstellungsverhältnisse dürften allenfalls ein Nebenjob sein, niemals eine Hauptbeschäftigung. “Minijobber wurden in der Pandemie besonders schlecht behandelt. Sie hatten keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld. Über eine Million Minijobber haben ihre Arbeit verloren.” Zusätzlich müsse man den Mindestlohn erhöhen. “So wird der Druck in den Unternehmen steigen, Arbeitsabläufe effizienter zu gestalten. Das ist die Voraussetzung, um überhaupt steigende Löhne zahlen zu können.”

Arbeitnehmer diktieren die Bedingungen

Für Arbeitnehmer müssen diese Entwicklungen nicht per se bedrohlich sein – im Gegenteil. Weber ist sogar davon überzeugt, dass es bis 2030 in Deutschland Vollbeschäftigung gibt. Fratzscher beobachtet gar eine geradezu tektonische Verschiebung. “Arbeitnehmer werden immer mächtiger. Wir sehen eine Transformation von einem Arbeitgebermarkt zu einem Arbeitnehmermarkt”, sagt er.

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Bei den Löhnen spiegelt sich das jedoch noch nicht wider, erklärt Fratzscher. Das liege an der geringen Lohnquote in Deutschland, was nichts anderes bedeutet als: Der Anteil des Kuchens, der an die Beschäftigten geht, ist im Vergleich zum Anteil, den die Eigentümer und Investoren bekommen, sehr klein. “Hier eine Balance zu finden, ist nicht nur gerecht, sondern auch aus ökonomischer Sicht sinnvoll”, sagt Fratzscher.